
Viele Menschen, die sich vom Leben gefangen fühlen, kennen vor allem das "zu viel" von allem. Entweder zu viel an Nähe, oder wiederum zu viel an Distanz, und beides versetzt sie in Angst.
Heute möchte ich dir einen Weg zeigen, der die scheinbaren Widersprüche unseres Daseins auf eine Weise vereint, die dich aus der Mühle des "Entweder - Oder" befreien. Doch zuerst sollten wir noch besprechen, wie es zu dem Gefühl des Zuviel kommt.
Im Zuge unserer kindlichen Entwicklung können wir alle nicht anders, als uns einer Identität anzunähern, die wir am Vorbild unserer Umwelt, in Form unserer Eltern oder anderen uns nahestehenden Personen, in unser nicht klares Bild vom Leben integrieren.
Da wir das Meiste, das auf uns einwirkt, nicht begreifen, orientieren wir uns vor allem an Bindungspersonen und unserer unmittelbaren Umwelt, indem wir vieles nachahmen.
Du hast sicherlich schon einmal Kindern einer Grundschulklasse zugehört, wie sie einfach die Standpunkte und Meinungen ihrer Eltern wiedergeben, ohne wirklich zu verstehen, worum es tatsächlich geht.
Als Jugendlich versuchen wir uns von all dem wieder zu befreien und unseren eigenen Weg suchen. Nur greifen wir meistens wiederum auf vorgefertigte Weltbilder von Gruppen zurück, die uns angeboten werden. Sodass wir bei einer Individualität landen, die mehr mit Konformismus zu tun hat.
Letztendlich finden wir uns wieder als Erwachsene, die vor allem gelernt haben, sich mit Kulturen und Subkulturen, Gruppen und bestimmten Personen zu identifizieren, aber auch mit ihren Codes und Regeln, oder auch Überzeugungen und Glaubenssätzen.
Diese jahrelange Konditionierung lässt uns mit dem Bedürfnis zurück, zu etwas oder jemanden dazugehören zu wollen. Meist sogar zu verschiedenen Gruppierungen, die nicht immer zueinander passen.
Da aber all diese Konstellationen aus demselben Identifikationsprozess hervorgegangen sind, finden wir uns in einem Teufelskreis wieder, den wir erst bemerken, wenn wir seine Auswirkungen kaum mehr ertragen können.
Alles, was wir als "meins" haben wollen, alles was wir glauben zu brauchen, folgt diesem Mangelbedürfnis, sich alles einzuverleiben, damit wir uns besser fühlen.
Nur geht die Rechnung nicht auf, weil der Mangel und das Gefühl nicht genug zu sein, nur noch mehr Mangel und eigene Unzulänglichkeit hervorbringen.
Bis zu einem gewissen Grad können wir ja die Dosis steigern, indem wir mehr konsumieren, uns in mehr Gruppen wiederfinden, oder andere Abhängigkeiten für uns finden. Nur überschreiten wir irgendwann jene Grenze an Sättigung, die alles in sich zusammenstürzen lässt, und uns als Häufchen Elend ausspukt.
Die zweite Variante, uns unglücklich zu halten, besteht darin, alles und alle immer wieder von uns fernhalten zu wollen.
Das funktioniert gut mit Personen, die wir verscheuchen, indem wir unberechenbar werden, sie attackieren, oder sie mit unseren Erwartungen überhäufen.
Das geht aber auch mit Substanzen und anderen Dingen die wir konsumieren, indem wir uns zuerst der Zügellosigkeit hingeben, um uns dann wieder in Abstinenz zu üben. Was uns beides nicht gut tut.
Die von uns immer wieder vollzogene Trennung beginnt eigentlich bereits bei der Geburt, wo wir zum ersten Mal erleben, dass es seltsam ist, von unserer Mutter getrennt zu sein.
Weitere Trennungen ergeben sich, wenn sich Bezugspersonen von uns als Kleinkinder entfernen und wir noch nicht verstehen, dass sie wieder zurückkehren werden.
Außerdem erleben wir, dass uns unsere Eltern nicht nur von Zuhause trennen, sondern auch sie selbst für Stunden verschwinden, wenn sie uns in Institutionen wie Kindergarten oder Schule zurücklassen.
Spätestens als Jugendliche fühlen wir uns hin- und hergerissen in der Ambivalenz endlich einen eigenen Weg zu gehen, aber gleichzeitig nicht verloren sein zu wollen.
Da sowohl alle relevanten Systeme von Schule bis Beruf hauptsächlich auf Wettbewerb und Konkurrenz aufgebaut sind, wo wir lernen, dass der Vergleich auch eine schmerzhafte Form der Trennung sein kann, wundert sich niemand mehr, wenn wir als Erwachsene Distanz und Isolation als Normalität integriert haben, die wir ja immer noch mit Psychopharmaka kompensieren können.
Wie können wir nun die Balance finden zwischen unserer Tendenz alles zu unserem zu machen, uns mit allem zu identifizieren und der angsterfüllten Reaktion, alle und alles auf Distanz zu halten, wenn wir überwältigt sind von all dem, das wir uns einverleibt haben?
Gibt es so etwas wie einen Mittelweg?
Ich glaube nicht. Denn genau, das ist es, was uns immer wieder zwischen den Polen schwanken lässt, das uns an die Oberflächlichkeit unseres Egos holt, in dem Drang nach Luft zu schnappen, obwohl wir doch eigentlich die Sehnsucht in uns spüren, die Tiefe unseres Seins zu ergründen.
Doch wenn wir nur in der Welt des Zuviel oder Zuwenig verweilen, scheint früher oder später alles zur Sackgasse zu mutieren, die uns keinen Ausweg zeigt.
Wie ich dir bereits letzte Woche in meinem Beitrag "Tage der Empfindsamkeit" versucht habe zu erklären, brauchen wir einen neuen Zugang zu unserem Dasein.
Eine Geschichtsschreibung, die sich hauptsächlich damit beschäftigt, welche Person mehr Menschen pro Tag ermordet hat, und wer wem mehr Leiden angetan hat, hätte uns längst zu denken geben sollen.
Das Sanfte, das Subtile, als klarer Zugang zu deinem wahren Selbst, hat zwar offiziell in unserer Welt keinen Platz. Doch warum sollte es dich daran hindern, für dich den Weg zu dir im Stillen zu beschreiten?
Wenn du nämlich das Zärtliche des Moments für dich wieder entdecken kannst, und zwar nicht nur in der Meditation, sondern auch wenn du in der Küche stehst, oder wenn du in der U-Bahn sitzt, oder deine Zähne putzt, oder wenn du mit anderen Menschen kommunizierst, dann eröffnet sich für dich eine andere Welt.
Schaffst du es die scheinbare Banalität des Augenblicks im Alltäglichen als magisch zu enttarnen, indem du mit aller Sanftheit an dir dran bleibst, findest du dich in jener Stärke deines Wahren Selbst wieder, die dich alles liebevoll annehmen lässt.
Das bedeutet, du brauchst nicht vor all den kleinen und großen Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten deines Lebens oder in den Leben aller anderen davonlaufen, weil du das Geheimnis der Schöpfung entdeckt hast:
In der Erfahrung des Augenblicks offenbart sich die Wahrheit der Liebe, unabhängig davon, wie sie sich uns präsentiert."
Und dies ist der Moment jener Transzendenz, die für dich bedeutet, dass du imstande bist, alles, was das Leben dir bietet, in Liebe anzunehmen, ohne es abzulehnen, oder zu deinem machen zu müssen.
Alles berührt dich, wie dein Kind. Doch du bist die weise Mutter, die das liebevolle Ganze lebt und trotzdem nichts mehr persönlich nimmt.
Ich wünsche dir und uns allem aus ganzem Herzen, dass wir gemeinsam auf diesen liebevollen Moment als Lebenshaltung zusteuern, um uns gegenseitig dabei zu unterstützen, zu sehen, wie wundervoll unser Leben eigentlich ist. Wenn du mit mir darüber sprechen möchtest, kannst du dich jederzeit bei mir melden, unter wolfgang.neigenfind@visionbord.com. Du kannst auch gerne einen Kommentar unterhalb hinterlassen. Ich freue mich darauf, von dir zu hören.
In Liebe,
Wolfgang
PS: Heute habe ich einen Song für dich, der gerade erst erschienen ist. Er stammt von der noch jungen britischen Sängerin Lola Young, die erst am Beginn ihrer Karriere steht und dennoch bereits sehr vielseitige Facetten in ihren Liedern präsentiert. Der Song heißt "Intrusive Thoughts" und erzählt von ihrem persönlichen Kampf mit all den Gedanken, die in ihrem Kopf auf sie einprasseln. Bis sie letztendlich genau zu dem Schluss kommt, wie ich heute: Dass wir erst lernen, wenn wir das Leben annehmen, wie es ist.