builderall


Wenn wir uns als sensibel oder sehr empfindsam erleben, haben vor allem Männer gelernt, dies als Schwäche zu interpretieren, um es dann möglichst zu ignorieren oder zu verschweigen.


Heute möchte ich mit dir gemeinsam einen völlig anderen Weg einschlagen, um dir nicht nur meine zarte Seite zu offenbaren, sondern dir da draußen, welchem Geschlecht du dich auch immer zuordnest, Mut zu machen, ebenso zu deinen Empfindungen zu stehen.



Sensibilität


In den letzten Wochen habe ich ich an mir verstärkt wahrgenommen, dass sich intensive Gefühle in mir Raum verschaffen. Die meisten, die das hören, werden wahrscheinlich an emotionale Szenen denken. Doch bis auf zwei Situationen, in denen sich mein Ego gehörig in den Vordergrund gespielt hat, war es eher eine sehr empfindsame Grundstimmung, die mich fast rund um die Uhr begleitete.


Ich habe es ja bereits erlebt, dass ich bei dramatischen Szenen in Serien oder Filmen gerne mitweine, doch dass ich auch einfach nur auf dem Weg zur Schule täglich dieselben intensiven Gefühle empfinde, das war dann doch neu.


Ich dachte mir schon, dass es sicherlich kurios anmutete, falls mich jemand beobachtete, wie ich so beim Zebrastreifen stand, mit einem Lächeln und Tränen im Gesicht.


Empfindsamkeit wird ja selbst Frauen vorgeworfen. Das PMS steht dann für viele nicht nur für prä-, sondern auch peri- und postmenstruales Syndrom. Was ich damit sagen will, ist, dass Frauen gerne zugeschrieben wird, zu emotional oder zu empfindlich zu sein.


Dabei sollte die Gesellschaft eher ein Problem mit uns Männern haben, wenn wir uns weigern, zu zeigen, was in uns vorgeht. Denn erst wenn wir zu unseren Gefühlen stehen, können wir integer sein und authentisch, um uns wohl in unserer Haut zu fühlen.



Die zwei Seiten der Empfindsamkeit


Ich habe jedenfalls, seit ich diese erhöhte Empfindsamkeit an mir wahrnehme, erlebt, dass auch dieser Zustand sowohl aus dem Mangel der Angst, als auch aus der Fülle der Liebe erlebt werden kann.


Die zwei Episoden, in denen ich vor allem mein Ego herausgekehrt habe, waren beide davon gekennzeichnet, dass ich mich als nicht genug gesehen wahrgenommen hatte.


Interessanterweise wird ja diese Art der Empfindsamkeit, also der ängstliche Mann, von allen als "normal" empfunden, und seine Schwäche als Stärke interpretiert, wenn er seine Unzulänglichkeit lautstark in die Welt hinausposaunt, oder gar auf andere losgeht.


So tun noch immer alle so, als wäre es völlig logisch, dass immer irgendwo auf der Welt Männer aufeinander mit Waffen schießen, auch Krieg genannt, obwohl sie damit nur zeigen, welche Schisser sie sind, weil sie die Welt nicht annehmen können, wie sie ist.


Das klassische Gegenstück dazu wäre das weibliche Opfer, das sich in seiner Angst dem Drama hingibt, und auch das Klischee der "schwachen" Frau erfüllt.


Empfindsamkeit, die aus der Fülle kommt, wird zwar vor allem auch durch das Aufstreben der LGBTQ-Gemeinde immer positiver ins Rampenlicht gerückt, aber es ist noch ein weiter Weg bis zu einem Cis-Mann, der als Vorgesetzter seine Rührung mit Tränen ausdrückt.


Wenn dann selbst Frauen damit ein Problem haben, wenn ein Mann seine feminine Seite zeigt, wird es offensichtlich, dass wir uns längst von überholten Gender-Stereotypen verabschieden sollten.



Auflösung der Geschlechterrollen


Denn erst wenn wir Frauen als stark ansehen, wenn sie nicht die männlichen Klischees versuchen zu kopieren, und Männer als stark ansehen, wenn sie offen ihre Gefühle zeigen, dann können wir uns endlich aus dem Gefängnis der Angst befreien.


Interessanterweise habe ich nämlich die Erfahrung gemacht, dass ich eher als starker Mann erlebt werde, wenn ich einfach alles zulasse und zeige, was in mir vorgeht.


Empfindsamkeit, die aus der Fülle kommt, ist nämlich nichts anderes für mich, als die Fähigkeit zur Empathie und zur Zärtlichkeit. Ironischerweise heißt ja "Gentleman" wörtlich übersetzt, nichts anderes als zärtlicher Mann.


Ich kann dir nur sagen, dass wenn ich nicht im oberflächlichen Smalltalkmodus nur über das Wetter oder den Urlaub plaudere, sondern wirklich einfühlsam an meinem Gegenüber interessiert bin, ich sehr intensive und tiefgründige Gespräche führe. Und das selbst in einer 15-Minuten-Pause.



Neue, empfindsame Welt


Für mich ist die Vorstellung, in einer Welt zu leben, die vor allem von empfindsamer Liebe getragen wird, eine wunderbare. Und auch wenn ich nicht immer alle mit diesem Vibe anstecken kann, versuche ich zumindest für mich, den ganzen Tag diese liebevolle Empfindsamkeit und die darausfolgende Wertschätzung für alle Menschen in meiner Umgebung zu leben.


Du solltest erleben, welche Situationen ich dabei vor allem mit Jugendlichen im Klassenzimmer erlebe, die von rührend bis aberwitzig gehen.


Ich schreibe dir das, um dir Mut zu machen, das, was und wer du bist, einfach zu zeigen, empfindsam und voller Liebe zu dir selbst. Denn wir alle profitieren von einer Welt, in der mehr und mehr Menschen sich zeigen, wie sie wirklich sind. Weil sie ihre Angst hinter sich lassen können.


In Liebe,

dein Wolfgang



PS: Niemand verkörpert für mich Empfindsamkeit so sehr wie Sinead O'Connor. Ihr traumatisiertes Leben hat sie veranlasst nicht nur ihren Kopf zu rasieren, sondern auch immer wieder konträr zu dem aufzutreten, was die Gesellschaft von jungen Sängerinnen erwartet. Leider schaffte sie es nur in der Musik den Kontakt zu ihrer Liebe aufrechtzuerhalten, sodass sie letztlich an ihrer eignen Empfindsamkeit zerbrach.

Auf ihrem ersten Album, aus dem Jahr 1987, ist ein Lied, das mich immer schon besonders berührte. "Troy" ist wie eine Metapher für Sineads ganzes Leben und all seine Widersprüche.