Wenn ich dich frage, wer du bist, was wirst du antworten? Wirst du mir deinen Namen nennen? Dich auf deinen Beruf beziehen? Deine Herkunft? Eigentlich ist dir klar, dass du nichts davon bist. Wir haben uns nur daran gewöhnt, eine Antwort parat zu haben.
Schon knapp nach der Geburt geht das Spiel los. Die Verwandten suchen nach Ähnlichkeiten, oder nach Dingen, die sie dir bereits in die Schuhe schieben können, obwohl du noch gar keine besitzt.
Kurze Zeit später, vor allem wenn du der Sprache mächtig bist, wirst du unentwegt gefragt, was du denn mit deinen Leben tun wirst, um dir einen dezenten Hinweis mitzugeben, dass du dich möglichst schnell festlegen sollst.
Und schon in der Jugend beginnt der Druck, jetzt endgültig rauszufinden, wer du bist und was du willst. Spätestens Mitte der Zwanziger solltest du dich definieren können.
Wozu wir natürlich alle nicht imstande waren und sind. Doch sagt dir das nur keiner.
Im heutigen Blog möchte ich dich endlich von all dem Mist befreien, der sich rund um das Thema Identität nicht nur angehäuft hat, sondern auch noch gewaltig stinkt. Vielmehr möchte ich dir zeigen, dass das Einzige, das du dir einhandelst, wenn du dich festlegst, dein selbstgestricktes Unglück ist, und es ganz andere Wege gibt, die dich nicht nur befreien, sondern auch tatsächlich hilfreich für dein Leben sind.
Ein Begriff wie Identität, der nur deine Unterschiedlichkeit zu anderen Personen bezeichnet, hätte uns schon immer suspekt vorkommen sollen, anstatt ihm erfolglos hinterherzuhecheln. Jetzt mal ehrlich. Wer soll das denn hinkriegen, in allem was du bist, tust, sagst oder denkst, einzigartig zu sein?
Umgekehrt sprechen wir wieder davon, dass Identität der völligen Übereinstimmung zweier Objekte entspricht. Da soll sich noch jemand auskennen.
Denn wenn wir erst unsere Identität entdecken, wenn wir unser Ding durchzuziehen, das wiederum darin besteht, dort zu landen, wo alle bereits sind, landen wir genau in jener Durchschnittlichkeit und Konformität, die uns das Leben so verleidet.
Natürlich bleibt es uns als Menschen nicht erspart unsere Differenz zu erfahren. Uns abzugrenzen. Um zu begreifen, wer wir nicht sind. Ansonsten wäre wir ja keine Mitglieder dieses seltsamen Vereins.
Doch holen wir die Psychologie ins Boot, wird die Sachlage schon sehr entlarvend, vor allem wenn wir erst dann eine Identität entwickeln, wenn wir uns mit etwas identifizieren. Das klingt ja schon richtig wie etwas Ansteckendes. Eine Krankheit.
Und kaum haben wir uns mit allen möglichen Rollen, Gruppen oder Personen identifiziert, geht es bergab mit uns und unserem Wohlbefinden.
Denn sobald unser Ego erwacht ist, schreit es seinen unstillbaren Hunger nach Mehr in die Welt hinaus. Und je mehr es bekommt, desto bedürftiger wird es. Bis die Sache eskaliert. Und keiner es merkt, weil wir alle die Katastrophe als Normalität leben.
Wir werden zu einer Ansammlung an Identifikationen mit allem, was uns so unterkommt. Und je abhängiger wir werden, desto mehr verlangt unser Ego.
Die Gesellschaft sprich Wirtschaft hat dafür sogar einen harmlosen und nützlichen Begriff ersonnen. Sie nennen das BIP, Kaufkraft, Konsum und sogar Volkswirtschaft. Diese wiederum misst unseren Wert an der Höhe der Geldbeträge, die wir in Bewegung setzen.
Nachdem ja Geld die Welt regiert, sprechen wir längst nicht mehr davon, wie schön ein Bild ist, oder wie lehrreich ein Roman, bzw. wie großartig die Darbietung von Künstlern ist. Nein, es sind die Verkaufszahlen, die darüber entscheiden, wie wertvoll diese Beiträge für die Nachwelt sind.
Als ich mein erstes Buch veröffentlichte und mit anderen darüber sprach, gab es grundsätzlich zwei Reaktionen. Die erste war so zu tun, als hätte ich gar nichts gesagt. Und die zweite bestand darin, mich zu fragen, wie viele Exemplare ich bereits verkauft hätte.
Und so verfährt unser kollektives und individuelles Ego immer mit uns. Zuerst sorgt es dafür, dass wir uns mit unserem Körper, Objekten, Besitztümern, Status, Rollen, Geld oder auch anderen Personen vollkommen identifizieren. Und dann geht die Misere los. Wir erleben uns als unterlegen oder überlegen, was uns beides nicht behagt.
Deswegen sorgen wir schnell dafür, dass wir die anderen oder die Objekte unserer Begierde genauso behandeln. Wir werten sie unentwegt ab oder auf. Wie auch immer. Hauptsache es geht uns danach schön dreckig. Nun weißt du, warum ich vom krankhaften Ego spreche.
Wie konnte es soweit kommen? Gute Frage. Doch egal, wie wir es auch drehen oder wenden. Meist sind alle Einflüsse von außen, wie z.B. die Kultur, unsere Familie, die Medien, oder auch Freunde durchwegs toxisch für uns.
Versuchen sie uns doch immer wieder in eine Identifikation zu zwingen, die nur unser Ego nährt. Abweichung und Anderssein wird nicht geduldet. Und das obwohl uns unentwegt genau das Gegenteil gepredigt wird.
Es ist wie eine klassische Doppelbindung nach Paul Watzlawick. Egal, was wir sagen oder tun, es wird garantiert gegen uns verwendet. Was nicht weiter schlimm ist, wenn dir deine Eltern, deine Kultur, deine Freunde und die Medien egal sind, und du nicht von ihnen abhängig bist.
Sogar die Sprache scheint sich gegen uns zu verschwören. Haben wir z.B. etwas in Beschlag genommen, verleiben wir es uns augenblicklich ein, mit dem Brandzeichen "MEINS".
Dass die Medien zur absoluten Irrenanstalt verkommen sind, und selbst sogenannte Qualitätsmedien sich nicht zu billig sind, im Live-Ticker über Tote zu berichten, ist dann fast schon rudimentär.
Dabei gäbe es ja ein Pflänzchen, das wir hegen und pflegen sollten. Leider kommt es einfach in unserem Alltag nicht vor. Denn Sprüche wie "Hauptsache gesund" sind nur Schenkelklopfer einer ungesunden Identifikation mit einem Körper, der nie und nimmer den größenwahnsinnigen Ansprüchen unsere Egos genügen kann.
Die Rede ist von unserem Selbst. Damit meine ich nicht all die verdrehten Begriffe, die es als Vorsilbe benutzen, wie z.B. Selbstbewusstsein, sondern jenes Selbst, das keinen Namen hat, keinen Körper, und auch kein Ablaufdatum.
Warum wir unser Selbst vernachlässigen liegt aber nicht nur an der schwanzgesteuerten, egomanischen Gesellschaft, in der wir leben. Es liegt auch daran, dass wir dem Selbst nicht habhaft werden können. Weil es nicht greifbar ist.
Es ist nicht messbar, nicht belegbar, und somit für die postaufgeklärte Gesellschaft nicht existent. Erst langsam regt sich auch in Wissenschaftskreisen ein Unbehagen mit dem allzu engen Korsett der Newtonschen Physik und Empirie.
Doch immerhin findest du auch schon eine beträchtliche Anzahl an seriösen Forschern und Intellektuellen, die einem Selbst, jenseits von Raum und Zeit, einen zentrales Gewicht in der Betrachtung unserer Existenz einräumen.
Dabei ist es so einfach, deinem Selbst auf die Schliche zu kommen. Wir alle kennen dieses Gewahrsein, bevor sich unser Verstand, unser Ego einmischt, vielleicht in der Stille nach dem Erwachen. Dies ist dein Selbst, das dich prinzipiell immer beobachtet und begleitet, selbst wenn dein Herz oder Hirn bereits aufgehört haben ihren Dienst zu tun.
Doch, wie ist das denn jetzt? Ist all das, was wir als unsere Identität bezeichnen wirklich schlecht? Wie sollen wir denn unseren Alltag bewältigen, wenn wir nicht einmal wissen, wie wir heißen?
Natürlich kannst du ohne deinen Körper nicht leben. Du hast auch einen vorgegebenen, genetischen Bauplan, ein bestimmtes Aussehen, und du wirst einen Beruf ausüben und Geld verdienen, um in unserer westlichen Kultur ein angenehmes Leben führen zu können. Schließlich können wir uns ja nicht alle in ein Ashram vertschüssen.
Doch sobald du dein Bewusstsein ins Spiel bringst, wirst du bald merken, dass es keinerlei Gewissheiten gibt, und alles veränderlich ist. So hätte ich dir mich selbst vor 15 Jahren ganz anders beschrieben als jetzt. Ich bezeichnete mich z.B. als Nachtmenschen. Mittlerweile freue ich mich, wenn ich vor 22 Uhr zu Bett gehen darf, und finde es toll, vor 6 Uhr aufzustehen.
Wichtig ist, dass du den Fängen deines Egos so weit entkommst, dass du nicht mehr unbewusst und traumwandlerisch durchs Leben läufst. Und wenn du wissen willst, woran du erkennst, ob du noch Opfer deiner Identifikationen bist, kannst du dich leicht selbst testen.
Wann immer dir das Leben eine neue Herausforderung in den Weg legt, und das wird es mit Sicherheit, brauchst du nur deine Reaktion zu testen. Solange du dich ärgerst, dich gegen dein Schicksal wehrst und mit den Ereignissen haderst, hat dich dein Ego noch immer im Würgegriff. Aber es liegt an dir, dies schrittweise zu ändern.
Was ich dir damit sagen will, ist, dass wir, wenn wir uns von allen Identifikationen lösen, nicht sofort unseren Namen, oder unsere Familie abgeben, aber trotzdem wissen, wie zufällig, willkürlich und austauschbar all diese Dinge sind.
Ich kann mich noch gut erinnern, dass ich vom Film "Matrix" fasziniert war, und sofort nach weiteren Werken der Drehbuchautoren und Regisseure suchte. Nur musste ich vor Kurzem feststellen, dass es die Warchowski Brüder nicht mehr gibt. Sie sind nämlich jetzt die Warchowski Schwestern.
Die zwei Hauptzutaten einer gesunden Essenz ist ein Mix aus einer spielerischen Identität und einem kultiviertem Selbst. Wenn du dich darin übst, diese beiden nicht aus den Augen zu lassen, wird dein Leben bald völlig anders aussehen.
Mit spielerischer Identität ist einerseits ein Anerkennen deiner jetzigen Lebenssituation gemeint, mit dem Bewusstsein, dass - frei nach Heraklith - alles ständig im Fluss der Veränderung ist.
Was du noch gestern warst, getan oder gesagt hast, muss heute absolut nicht mehr gelten. Ich hatte schon so viele Leben, an die ich teilweise keine Gedanken mehr vergeude.
Schließlich wollen wir doch lernen und uns weiterentwickeln. Willst du wirklich noch dasselbe Bewusstsein haben wie vor 10 Jahren? Wenn du den Prozess deiner Transformation bewusster angehst, und ihn gleichzeitig mit einer gehörigen Brise spielerischer Leichtigkeit und Humor würzt, wirst du erst merken, zu welch unglaublichen Dingen du imstande bist, und du eher über dein Leben lachst, als im Drama zu versinken.
Somit ist die beste Antwort darauf, wer du bist, vielleicht gar keine. Oder der Hinweis darauf, dass du selbst gespannt bist, mit welcher Identität du morgen das Haus verlässt.
Gleichzeitig gibt es aber eben auch einen Bereich an dir, der so beständig ist, dass er sich sogar über die Grenzen von Raum und Zeit hinwegsetzt. Und dieses Selbst kannst du tagtäglich kultivieren. Weil es dir genau jene Unbegrenztheit, Gelassenheit, Erdung und Verbindung mit allem verleiht, nach der wir uns in Wirklichkeit so sehnen.
Wie du dein Selbst kultivierst? Indem du so bewusst wie möglich bist. Moment für Moment. Beobachte dich selbst, während du alltäglichen Dingen nachgehst. Atme immer wieder bewusst tief ein und aus. Meditiere, spaziere in der Natur, praktiziere Yoga, lege ein Puzzle, bleib möglichst oft bei einer Sache, ohne in Grübeleien abzudriften.
Jeder kleine Schritt in Richtung mehr Bewusstsein bringt dich unaufhörlich deinem Selbst näher. Und das zahlt sich allemal für dich aus. Du wirst mit jedem bewussten Erleben deines Selbst gelassener, zufriedener und dein Ego schrumpft unaufhörlich.
Und auch wenn dieser Weg scheinbar nie zu Ende sein wird, ist er jeden Millimeter, den du auf ihm zurücklegst, wert. Ich wünsche dir, dass du auch in deinem Leben zunehmend jene Bereiche außen vor lassen kannst, die deine Lebensqualität schmälern, und gleichzeitig jene Gewohnheiten priorisierst, die dir nur guttun.
Schreib mir, wie es dir auf deinem Weg ergeht. Ich freue mich von dir zu hören, unter wolfgang.neigenfind@visionbord.com. Ich kann dich auch gerne unterstützen, oder beantworte deine Fragen.
Alles Liebe,
dein Wolfgang
PS: Im Jahr 2005 entstand die TV Serie "Weeds", die die Scheinheiligkeit und Fragwürdigkeit von Identitäten, die in typischen amerikanischen Vorstädten gepflegt werden, auf's Korn nimmt. Titelsong der Serie ist der aus dem Jahr 1967 stammende Song "Little Boxes" von Malvina Reynolds, die als Aktivistin mit ihren Protestsongs bekannt wurde. Das Lied hat nichts von seiner Aktualität verloren, eher im Gegenteil. Irgendwann hatten die Serienmacher die Idee, dass sie jede Folge von anderen Künstlern oder Prominenten "Little Boxes" singen ließen. Hier die Version von Linkin Park. So hast du sie sicher noch nie gehört.