
Die Kultur, in die wir hineingeboren werden, fußt auf der Überzeugung, dass wir lernen müssen, richtig von falsch zu unterscheiden, oder Recht von Unrecht.
Und auch wenn dich dein Alltagsverstand immer wieder dazu drängt, dieser Prämisse zu folgen, gelangen wir alle irgendwann an den Punkt, an dem wir schmerzhaft feststellen, dass das Denken in sich gegenüberliegenden Polen, das auch Dualismus genannt wird, nichts anderes ist, als eine Sackgasse, die mehr Fragen aufwirft, als sie uns Antworten liefert. Außerdem macht uns diese Perspektive unglücklich, weil sie das Leben verzerrt und nicht abbildet, wie es wirklich ist.
Daher möchte ich die - für manche - gewagte These aufstellen, dass es dir erst dann wirklich gut geht auf deiner Reise, wenn du diesen Dualismus hinter dir lässt.

Auch wenn viele Ideen in verschiedenen Disziplinen zum Thema ?Dualismus? existieren, ist es vor allem seine religiöse Ausprägung, die unser Bild von Gesellschaft und Kultur geprägt hat.
So fußt unser gesamtes Rechts- und offizielles Wertesystem auf der Annahme, dass es Verhaltensweisen gibt, die gut bzw. rechtens sind, während es auch das Böse oder Unrecht gibt.
Das führt dazu, dass sowohl in staatlichen als auch in privaten Institutionen davon ausgegangen wird, dass es notwendig ist, regelkonformes Verhalten zu kultivieren und zu fördern, während regelwidriges Verhalten zu vermeiden ist und deswegen auch sanktioniert wird.
Diese Kultur hat es ermöglicht, dass wir über die gesamte Menschheitsgeschichte hinweg ein Bild perpetuiert haben, dass das Gute belohnt und das Böse bestraft.
Die Literatur und Unterhaltungsindustrie wiederholt im Prinzip immer wieder dieselbe Geschichte, die uns erzählt, dass die richtige Seite als Sieger hervorgehen muss.
Diese Fassade beginnt persönlich und im historischen Kontext zu bröckeln, wenn sich gewisse Werte verschieben und das, was gerade noch verpönt war, auf einmal in Ordnung ist, oder auch umgekehrt.
So reicht zum Beispiel das Spektrum des angemessenen Umgangs mit unseren Kindern von gezielter Tötung, über totale Verfügbarkeit und Kinderarbeit, bis hin zu Unversehrtheit, Kinderrechten und völligem Pluralismus im Umgang mit ihnen.
Wie du siehst, kann ein- und dasselbe Verhalten gerade noch moralisch einwandfrei und rechtens sein, aber dann wird es auf einmal als verabscheuungswürdig und Verbrechen gehandelt.
Das Bewusstsein für diese Willkür führt zu einer immer größeren Verunsicherung bei vielen Menschen, wie z.B. in Schulen und Familien.
Trotzdem werden dir die meisten Menschen immer noch beteuern, dass es wichtig ist, an dem dualistischen System festzuhalten, gerade auch, weil sie verunsichert sind.

Nur haben Entwicklungen wie das Internet dazu geführt, dass alle Menschen einen zunehmenden Zugang zu allen Ideen auf dem gesamten Planeten Zugang haben, und es kommt immer wieder zum offenen Wettstreit zwischen den verschiedenen Ansichten darüber, was richtig und falsch ist.
Die Möglichkeit, überall auf der Welt Gleichgesinnte zu finden, die selbst die skurrilsten Ideen und Vorstellungen mit gewissen Personen teilen, hat außerdem bewirkt, dass es zur Bildung von Parallelkulturen kommt, die alle behaupten, die Wahrheit zu kennen.
Und im Wettstreit dieser Ideologien finden vor allem jene ein breites Publikum, die die Sehnsucht nach Sicherheit und Gewissheit bedienen, und dies meist mit vereinfachenden und emotional aufgeladenen Bildern untermauern können.
So gibt es z.B. niemanden, der nicht das Bild von den vergewaltigenden, männlichen Flüchtlingen aus dem arabischen Raum kennt, während Jugendliche bei alten Genderstereotypen Zuflucht suchen, und alle Medien mit Skandalisierung und Polemisierung um ihr Überleben kämpfen.
Ken Wilber, amerikanischer Autor und Philosoph, hat in seinem integralen und holistischen Ansatz sehr gut dargestellt, wie viele Bevölkerungsgruppen aus ihrer Unsicherheit heraus, wieder in jene Entwicklungsstufen zurückfallen, die einfache Antworten bieten und sich gerne einer Schwarz-Weiß-Rhetorik bedienen.
Das Ergebnis sind viele Menschen, deren Angst und Verunsicherung dazu führt, dass sie bei alten, dualistischen Konzepten Zuflucht suchen, die ihnen eine scheinbare Sicherheit und eine einfache Weltsicht bieten.
Doch eigentlich ist uns allen längst klar, dass es ein einfaches Schwarz oder Weiß nie gegeben hat, und der Preis aller Ideologien und Weltbilder, die Klarheit versprechen, für uns alle viel zu hoch sind, weil sie uns letztlich noch mehr in unserem Selbstbild erschüttern.
Und auch wenn es angesichts der zweifelhaften Rolle Israels im Nahostkonflikt für viele verlockend ist, Antisemitismus wieder hoffähig zu machen, ahnen bereits alle Beteiligten in und außerhalb Israels, dass die dualistische Versuchung, nach Schuldigen oder Bösen zu suchen, für niemanden gut enden wird.

Egal, welche bedeutende, spirituelle Tradition du heranziehst, sie werden dir im Kern immer wieder dieselbe Botschaft servieren: Dein Seelenfrieden, dein Glück ist nur in der Einkehr zu dir selbst zu finden.
Schon diese radikale Abkehr von dem, was im Außen passiert, sollte uns seit einigen Jahrtausenden zu denken geben.
Gerade Jesus hat sich immer wieder ausdrücklich jenen zugewandt, die Außenseiter waren, Ausgestoßene oder Kriminelle. Gleichzeitig hat er gegen Scheinheiligkeit oder sogenannte Rechtschaffenheit gewettert, um unsere Augen dafür zu öffnen. dass wir nicht so weitermachen können.
Und auch wenn das Christentum einen weltweiten Siegeszug angetreten hat, sind die Kernideen Jesus nicht einmal ansatzweise auf der Welt umgesetzt worden. Vor allem nicht in unserem Kulturgut oder im öffentlichen Leben.
Doch dasselbe ist in allen bedeutenden Traditionen passiert. Es scheint fast so, als wünschten wir uns alle eine bessere Welt, solange wir selbst nichts zu ihr beitragen müssten.
Denn der Großteil der Menschheit verurteilt lieber, bewertet, richtet, attackiert und tut so, als wäre unser Verhalten bedeutender, als wer wir wirklich sind.
Noch skurriler ist es, dass wir immer schon sämtliche Regeln und Gesetze tagtäglich gebrochen haben, gegen Werte verstoßen, und trotzdem tun alle so, als könnten sie auf andere zeigen.
Was aber neu ist, ist der Umstand, dass sich auch immer mehr Menschen finden, die sich bewusst dafür entscheiden, aktiver Teil ihrer spirituellen Reise zu sein, die letztlich erst dort beginnt, wo der Dualismus endet.

Es gibt ein neues Bewusstsein in der Welt, das sich vom Dualismus abwendet und in allen Bereichen des Lebens ein Denken hervorbringt, das neue Wege geht. Ein Beispiel sind die Serien, die in den letzten Jahren produziert wurden, in denen es keine eindeutigen Helden oder Schurken mehr gibt, oder alle Charaktere eine Tiefe besitzen, die zeigt, wie vielschichtig wir Menschen wirklich sind.
Doch wie kannst du es nun schaffen, jene Welt hinter dir zu lassen, die bis jetzt deine Realität gebildet hat?
Es ist der radikale Blick in den Spiegel der Selbsterkenntnis, der dir zeigt, dass du weder unzulänglich noch unfehlbar bist, der den Boden bereiten kann.
Dich so oft wie es dir nur möglich erscheint, selbst zu beobachten, eröffnet dir den Weg in jene Dimension der Präsenz, die dich aus der Angst der Vergangenheit und Zukunft entlässt, sodass die Welt des Dualismus für dich obsolet wird.
Und wenn dein Ego dich wieder nötigt, zu bewerten, oder in Schubladen zu denken, dann hilft dir dein wachsendes Bewusstsein zunehmend dabei, wieder ins liebevolle Jetzt zurückzukehren, das es dir möglich macht, eine Welt jenseits des Dualismus als realistische Option zu erleben.
Denn es sind nicht die sogenannten Ungerechtigkeiten an sich, die uns zu schaffen machen, sondern unsere angsterfüllte Reaktion, die versucht, sich wieder in Bewertungen oder Projektionen zu flüchten.
Radikale Vergebung und bedingungslose Liebe sind keine weichgespülten oder unrealistischen Szenarien, sondern der einzige Weg, das Leben anzunehmen, wie es tatsächlich ist.
Gehst du erst einmal den Weg der Integrität, wirst du unmittelbar erleben, dass es noch immer Konsequenzen für Verhalten gibt, dass du immer noch Verantwortung trägst, aber dass das Wahre, das Gute sich durch sich selbst verwirklicht, und das, was wir als das Böse gesehen haben, auch sich selbst in den Abgrund reißt.
Das soll nicht wieder dazu führen, dass du nach einer Gerechtigkeit suchst, die es nie gegeben hat. Aber es soll dir zeigen, dass jeder Moment, den du der Liebe schenkst, dir den Himmel auf Erden bereitet, und nur wir selbst es schaffen, unsere persönliche Hölle zu erschaffen, wenn wir die Wirklichkeit leugnen, indem wir sie auf Bewertungen, Kategorien und Projektionen unserer Angst reduzieren.
Du und ich, wir alle, werden immer wieder als Mensch scheitern. Doch wird unser Lernen erst dann zum Scheitern, wenn wir das wollen. Die Alternative besteht darin, unser Dasein im Jetzt als Lektionen der Liebe zu kultivieren, die das Potential in sich tragen, die gesamte Menschheit zu einer besseren Version ihrer selbst zu verhelfen.
Ich wünsche dir viel Erfolg dabei, den Dualismus hinter dir zu lassen. Wie immer freue ich mich darüber, von dir zu hören. Schreib mir unter wolfgang.neigenfind@visionbord.com. Ich unterstütze dich auch gerne auf deinem spirituellen Weg. Melde dich einfach für ein unverbindliches Gespräch.
In Liebe,
dein Wolfgang
PS: 2001 brachte der US Sänger, Gitarrist und Songwriter John Mayer den Song "No Such Thing" heraus, der sich darauf bezieht, dass es keine Realität im herkömmlichen Sinne gibt, sondern nur eine kulturelle Lüge, über die wir uns erheben können.