Ist dir schon aufgefallen, dass die Suche nach Wahrheit vieles ans Tageslicht befördert, nur eines nicht, nämlich die Wahrheit selbst? Denn je intensiver du forschst und nachhakst, desto weiter scheint sie in die Ferne zu rücken, als würdest du dem Ende eines Regenbogens nachjagen.
Deswegen stellt sich die Frage, ob es so etwas wie Wahrheit überhaupt geben kann?
Es ist ja eigentlich ein ziemlicher Kalauer, wenn wir vor Gericht schwören, wahrheitsgemäß zu antworten, obwohl uns eigentlich klar sein müsste, dass wir, wenn wir wirklich ehrlich wären, sagen müssten, dass wir besser schweigen sollten. Warum das?
Egal aus welchem Blickwinkel wir die Sache betrachten, kommen wir eigentlich nicht weiter. In der zwischenmenschlichen Kommunikation ist Wahrheit im besten Fall ein ausgehandelter Kompromiss, aber selbst, wenn zwei Menschen sich fast blind verstehen, alles von einander wissen, es wirklich gut miteinander meinen, und sehr klar kommunizieren, kommt es ständig zu Missverständnissen. Das liegt daran, dass Sprache viel zu offen angelegt ist.
Ich gebe dir ein Beispiel. Schon der kurze Satz: "Das hast du toll gemacht!" kann ganz unterschiedlich verstanden werden. Während du dich vielleicht freust über das Lob, war die Botschaft eventuell eine zynische, die genau das Gegenteil impliziert. Oder während du den Satz nur als Information gesagt hast, versteht dein Gegenüber den Satz als Kritik seiner bisherigen Tätigkeit, weil er vor allem das "DAS" betont gehört hat, und für ihn der Satz die Aussage bereithält, dass er dieses Mal gute Arbeit abgeliefert hat, während er ansonsten anscheinend nicht so gut arbeitet. Und das war jetzt nur ein kleiner Ausschnitt der Interpretationsmöglichkeiten dieser kurzen Aussage.
Auch unser Gedächtnis bietet kaum Trost. Denn schließlich ist es eine essentielle Notwendigkeit, dass wir den Großteil unseres Erlebens nicht bemerken bzw. wieder vergessen. Aufgrund unserer begrenzten Wahrnehmungsfähigkeiten können wir zum Beispiel nur einen winzig kleinen Bruchteil der Realität um uns überhaupt theoretisch wahrnehmen. Das hat nicht nur mit der Begrenztheit unserer Sinne zu tun, sondern auch mit der Tatsache, dass unser Sensorisches Register (oder auch Ultrakurzzeitgedächtnis) blitzschnell sein muss, damit wir uns in einer Umgebung orientieren können.
Und selbst die Inhalte, die bis ins Langzeitgedächtnis dringen, sind sehr bedingt glaubhaft. Unser episodisches Gedächtnis (also unsere Erinnerungen an unser Leben) ist nämlich sehr, sehr fehleranfällig. So weißt du vielleicht schon nach ein paar Tagen nicht mehr, was du getan hast, geschweige denn, was vor Jahren passiert ist.
Selbst wichtige Erinnerungen, die wir noch lebhaft vor unserem geistigen Auge sehen können, entspringen oft mehr unserer Fantasie als tatsächlich Erlebtem. So konnte schon mehrfach in Experimenten Menschen eine Erinnerung suggeriert werden an ihre Kindheit, die so nie passiert ist. Das geht so weit, dass sich mehrere Personen lebhaft an einen Besuch in einem Freizeitpark erinnerten, den sie nie erlebt hatten.
Selbst die Wissenschaft ist nicht unbedingt besser. Metawissenschafter wie Dr. John Ionannidis konnte eindrucksvoll nachweisen, dass die meisten empirischen Untersuchungen fehlerhaft sind. Es stellt sich die Frage, ob eine objektive rein sachliche Perspektive überhaupt möglich ist, solange der subjektive Faktor, also der Mensch beteiligt ist. Schließlich interpretieren wir immer, was wir wahrnehmen, anders geht es nicht.
Mittlerweile gibt es sogar ernsthafte Ansätze in der Forschung, die davon ausgehen, dass es eine gemeinsame objektive Realität nie gegeben hat, weil selbst die Wahrnehmung, die wir als Welt der naturwissenschaftlichen Gesetze kennen, auch nur eine Vereinfachung der Wirklichkeit darstellt, die wir uns evolutionär angeeignet haben, um einerseits mit der Welt zurecht zu kommen, und die uns andererseits zu der Vorrangstellung verholfen hat, die wir als Spezies heute in der Welt inne haben.
Tja, jetzt wo du weißt, dass Wahrheit ein sehr relativer Begriff ist, kommen wir der Sache langsam näher. Denn all unsere Glaubenssätze, Regeln und Gesetze, die wir verinnerlicht haben, basieren auf irgendwelchen Wahrheiten, die zwar von einer Kulturgemeinschaft tradiert wurden, die aber im Grunde genommen, keinen Anspruch auf Gültigkeit stellen können.
Denk nur an die lange Liste an gesellschaftlichen "Wahrheiten", über die wir heute nur lachen, oder den Kopf schütteln, wie dass Eltern mit ihren Kindern tun dürfen was sie wollen (inklusive Tötung), dass Frauen keine gleichwertigen Menschen sind wie Männer, dass unser Körper nur eine Maschine ist, dass ein Gewitter der Zorn der Götter ist, oder dass du, wenn du lange genug aufs Meer hinaus fährst, irgendwann vom Rand der Welt purzeln wirst.
Wie du siehst, bergen Glaubenssätze gleich mehrere Gefahren:
Außerdem haben Glaubenssätze die Tendenz, sich selbst zu bestätigen, was man auch als selektive Wahrnehmung bezeichnet. Das bedeutet, man zieht Erfahrungen an, die die eigenen Auffassungen verstärken. Glaubst du überwiegend an die Defizite der Menschen in deiner Umgebung, wirst du vor allem diese bemerken, und nicht ihre Stärken.
Dass der Anspruch auf Wahrheit uns mehr Unheil bringt und vor allem zu Toten in Kriegen führt, wissen wir alle. Deswegen sollten wir überlegen, was anstelle der Wahrheit als Richtschnur unseres Verhaltens dienen könnte. Die Antwort ist eigentlich sehr simpel. Es gibt Dinge, die funktionieren, und Dinge die nicht funktionieren. Es gibt Glaubenssätze, die dir dienen, und es gibt Regeln, die dir nicht gut tun, oder die dir sogar schaden.
Wäre es nicht höchste Zeit, dass wir beginnen, uns zu fragen, was uns dient, was uns gut tut, und was nicht? Brauchen wir wirklich noch mehr gesetzliche Regelungen und Verbote, nur um zu verhindern, dass wir endlich Verantwortung für unser Leben übernehmen? Wäre es nicht das Beste, dass jede einzelne von uns, dieser Verantwortung nachkommt, indem sie sich jeden Tag fragt, was ihr in ihrem Leben dienlich ist, und was nicht, in dem Bewusstsein, dass wir es auch aushalten müssen, dass wir zu unterschiedlichen Antworten gelangen?
Höchste Zeit, deine eigenen Glaubenssätze zu durchforsten. Welche Ideen von der Welt trägst du mit dir herum, die dir gar nicht gut tun, die dich belasten, die dich sogar krank machen, nur weil du sie bereits als Kind verinnerlicht hast, und nur nie darüber nachgedacht hast, was sie mit dir machen? Haben deine Eltern vielleicht immer wieder Dinge gesagt, wie: "Du musst dich entscheiden zwischen Karriere oder Familie", oder "Im Leben wird dir nichts geschenkt!"?
Vielleicht solltest du einmal eine Liste an Glaubenssätzen aufschreiben, die du noch mit dir herumschleppst, die sich aber nicht mehr hilfreich oder nützlich für dich anfühlen. Welche Regeln deiner Gemeinschaft teilst du nicht, beugst dich aber, weil du nicht ausgeschlossen werden möchtest? Welche Ideen aus den Nachrichten und anderen Medien haben sich in deinem Kopf eingenistet, die sich gar nicht wie du anfühlen, aber trotzdem in dir herumspuken?
Anschließend notiere, was dir gut tut, was dein Herz zum Leuchten bringt. Bei welchen Werten fühlst du dich wirklich wohl und frei? Was bringt dich dir selbst näher? Welche Überzeugungen bringen dich zum Lächeln? Wo bist du wirklich du?
Eines sollte soweit klar sein. Wir leben alle in unserer eigenen Wirklichkeit. Das ist nicht zu verhindern. Für ein glückliches und erfülltes Leben ist es aber eben ratsam, dir jene Auffassungen auzusuchen, die dir entsprechen, die dir gut tun. Dies ist auch im Sinne der Gemeinschaft.
Lebst du nämlich nach Regeln, die dich verletzen, die dir schaden, wirst du auch andere verletzen. Deshalb ist es nicht egozentrisch nach eigenen Überzeugungen zu leben, sondern genau das Gegenteil. Es ist der Schlüssel zu einem wertschätzenden Miteinander und es ist der einzige Weg, Verantwortung für dein Leben zu übernehmen.
"Nach eigenen Überzeugungen zu leben ist der Schlüssel zu einem wertschätzenden Miteinander und der einzige Weg, Verantwortung für dein Leben zu übernehmen."
Wenn wir uns verbiegen müssen, werden wir entmündigt und früher oder später anderen Schaden zufügen. Erst wenn du in Frieden mit dir selbst lebst, bist du bereit, liebevoll mit deiner Umwelt umzugehen. Schließlich tut niemand anderen weh, weil er das lustig findet, sondern weil er für sich keine andere Möglichkeit sieht.
Somit kannst du bereits jetzt beginnen, dir deine wunderbaren Überzeugungen zu erschaffen, die dir die Gelegenheit bieten, dich zu entfalten, dein wahres Selbst zu offenbaren, und die dir einfach gut tun. Auch wenn deine Mitmenschen, aus ihrem Verletztsein heraus, teilweise ablehnend reagieren werden, wirst du früher oder später bemerken, wie gut es dir und auch den anderen tut, wenn du Farbe bekennst.
Wenn du das Ganze mit Humor angehst, und auch immer versuchst, möglichst liebevoll zu bleiben, wird es dir auch gelingen. Du gibst dir die Erlaubnis für deine Überzeugungen, und gleichzeitig gibst du allen anderen die Erlaubnis für ihre Einstellungen. Auf diese Weise steht deinem neuen Leben nichts mehr im Wege.
Schreib mir, wie es dir mit deinen Glaubenssätzen geht. Ich freue mich von dir zu hören, unter wolfgang.neigenfind@visionbord.com. Außerdem bin ich auch jederzeit bereit, dich auf deiner Suche nach deinen authentischen Überzeugungen zu unterstützen. Du brauchst dich nur bei mir zu melden.
Alles Liebe,
dein Wolfgang
PS: Der british-libanesische Sänger Mika musste 2007 erleben, wie in die Plattenfirma sowohl vom Sound als auch seinem Look zur Kopie von Graig David machen wollte, weil dieser in Großbritannien gerade so angesagt war. Als Antwort auf dieses Ansinnen schrieb und veröffentlichte er "Grace Kelly". Er singt darin, dass er alles sein könnte und vortäuschen könnte. Aber letztendlich brachte er die Nummer so raus, wie er wollte. Und das Ergebnis ist bis heute unglaublich und ein Garant für gute Vibes für den Tag!