Ich gehe davon aus, du kennst das: Du bist auf einmal in einer Situation, in der du dich rechtfertigen musst, und dein Gegenüber, meist jemand, von dem du abhängig bist, oder der in der Hierarchie über dir steht, interessiert sich nicht für deine Geschichte, obwohl diese erklären könnte, wie es soweit gekommen ist. Letzten Endes wird dir mitgeteilt, dass niemand deine Argumente hören will. Außerdem wird dir klar zu verstehen gegeben, dass du einfach wieder einwandfrei funktionieren sollst. Punkt.
Wie konnte es so weit kommen, dass wir uns als Menschen, obwohl wir uns gerne als die Krönung der Schöpfung bezeichnen, den Boden unter den eigenen Füßen jeglicher Menschlichkeit entziehen, und das nicht nur hin und wieder, sondern eigentlich tagtäglich? Und das trotz oder - vielleicht auch wegen - der Erfahrungen mit institutionalisierten Grausamkeiten des Nationalsozialismus, Kommunismus, oder anderer -ismen.
Im heutigen Blog möchte ich der Entmenschlichung unserer Gesellschaft ein wenig auf die Spur kommen, und dann am Ende darüber sprechen, was du tun kannst, um zumindest deine eigene Humanität noch zu retten.
Der Anfang: Die Angst sich zu zeigen
Wir alle wussten es immer schon. All die Diktatoren, Tyrannen, ob öffentlich, zu Hause oder im Klassenzimmer, hatten nicht gerade eine Vorgeschichte aus dem Bilderbuch, sondern eher eine traurige bis grausame Kindheit.
Was ich damit sagen möchte, ist der Umstand, dass - frei nach Hannah Arendt - die Banalität des Bösen an jeder Ecke bzw. in jedem Kinderzimmer auf uns lauert.
Denn selbst jene, die von sich selbst behaupten, wirklich glücklich aufgewachsen zu sein, sind voll von Zweifeln und Ängsten.
Warum haben wir alle so große Angst davor, uns zu zeigen?
Weil wir in unserer Kultur gelernt haben, dass wir immer wieder dafür bestraft werden, wenn wir einfach so sind, wie wir eigentlich sein wollen.
Das geht so weit, dass mehr als 90% aller Schüler, die ich in über 20 Jahren als Lehrer kennengelernt habe, ab einem gewissen Alter nur mehr Zombies sind, die alles am liebsten hinschmeißen würden, und dich als Pädagoge das Gefühl überkommt, ein Leichenschänder zu sein.
Das Resultat ist eine Gesellschaft, in der sich niemand mehr traut, authentisch zu sein, und die wenigen, die es doch wagen, dafür meist einen hohen Preis zahlen.
Der Rahmen: Objektivität als Unmenschlichkeit
Eigentlich sollte man meinen, dass Objektivität etwas Gutes sei, oder zumindest nichts Schlechtes. Doch leider muss ich dir mitteilen, dass sie zur Rechtfertigung aller Unmenschlichkeit verkommen ist.
Natürlich ist es nicht hilfreich, sich mit den eigenen Emotionen so zu identifizieren, dass man im Affekt Dinge tut, die man später nicht einmal selbst versteht.
Aber gleich das Kind mit dem Bad auszuschütten, indem man dem gesellschaftlichen Raum alle Menschlichkeit entzieht, das ist einfach nur absurd.
Die Aufklärung, die Gott überflüssig machte, hat uns eine kalte Vernunft als Zeitgeist beschert, die im Prinzip nur ihrer eigenen Logik gehorcht.
Und als dann auch noch im Namen der Wissenschaft Menschen zu Objekten der Untersuchung gemacht wurden, für die wir uns nicht näher interessieren dürfen, war der Willkür Tür und Tor geöffnet.
Denn ein Verstand, der nur sich selbst gehorcht, braucht sich nicht um Ethik kümmern. Dafür gibt es ja Kommissionen oder Gesetze.
Und so leben wir in einer Welt voller Objekte. Uns inbegriffen. Auf diese Weise ist die Funktionalität in unser Leben gekommen, die uns jeden Tag daran erinnert, dass unsere menschlichen Bedürfnisse eher ein Luxus sind, für die wir vielleicht Zeit haben, sobald wir unser Pflichtprogramm abgespult haben; sollte das je der Fall sein.
Die Vollendung: Psychopathie des Alltags oder die industrielle Entmenschlichung
Recherchiert man die Merkmale von Psychopathen, dann wird schnell ersichtlich, dass unsere Kultur fast als Anleitung zur Psychopathie gesehen werden könnte.
Ein Merkmal von Psychopathen ist ihre Weigerung andere als Mensch zu sehen, und sie somit zum Objekt zu machen. Außerdem mangelt es ihnen überhaupt an Einfühlungsvermögen und sie sind nicht bereit Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Obendrein versuchen sie andere ständig zu manipulieren und als Mittel zum Zweck zu benutzen.
Diese Charakteristika lesen sich einerseits wie das Handbuch einer Karriere in Politik und Wirtschaft und andererseits sind sie fast ein Spiegel unserer Gesellschaft, deren Algorithmen nur daran interessiert sind alle bedürftig, funktionell und abhängig zu halten.
Wir alle waren irgendwann in unserem Leben in mindestens einer Situation, in der uns unsere Menschlichkeit abgesprochen wurde.
Weil es für andere lustig war. Weil wir nicht gehorchen wollten. Weil wir Fehler gemacht haben. Weil wir Erwartungen nicht entsprochen haben. Weil uns andere benutzen oder manipulieren wollten. Weil anderen Macht über uns verliehen wurde. Weil wir gegen Regeln oder Gesetze verstoßen haben.
Bist du jetzt aber versucht, dich nur als Opfer der Entmenschlichung zu sehen, muss ich dich gleich einbremsen. Wir alle tragen das Potential in uns Psychopathen zu sein.
Oder hast du noch nie andere für deine Zwecke manipuliert? Oder wolltest du noch nie, dass deine Kinder oder dein Partner einfach funktionieren? Oder hast du noch nie andere erniedrigt? Oder hattest du noch nie Erwartungen?
Du wirst jetzt vielleicht einwenden, dass es doch ein weiter Weg ist von Erwartungen zur Grausamkeit.
Doch da bin ich mir nicht so sicher.
Ich gebe dir ein paar Beispiele: Das Ehepaar, das momentan unter uns wohnt, erscheint nach außen hin vielen freundlich. Doch wenn es jemand wagt, ihre Ruhe zu stören, greifen sie schon einmal zu drastischen Mitteln. So schütteten sie meinem damals 10 Jahre alten Sohn Urin in die Schuhe, die am Gang standen, weil wir ihnen zu laut waren.
Oder mein Vorgesetzter, der meine Existenz aufs Spiel setzte, als er eine Ansammlung von erfundenen Vorwürfen an die Bildungsdirektion sendete, und auch noch dafür sorgte, dass ich die Schule verlassen muss. Und das nur, weil er andere Vorstellung hat.
Eine liebe Bekannte erzählte mir, dass sie eine angesehene Frau in Wien in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts war, bis sie als Jüdin von denselben Menschen, die sie kurz zuvor noch freundlich gegrüßt hatten, dazu genötigt wurde, mit einer Zahnbürste den Gehsteig zu putzen.
Oder eine andere Bekannte, die mir berichtete, dass ihre Mutter, wenn sie sauer auf sie war, eine Woche kein einziges Wort mit ihr sprach.
Weißt du, was all diese Menschen antreibt, zum Täter zu werden? Ihre Angst. Angst, nicht beachtet zu werden. Angst, die Kontrolle zu verlieren. Angst vor Autoritäten. Angst vor Unbekanntem. Angst davor, nicht zu genügen.
Wie du siehst, bewegen wir uns hier im Kreis. Denn diese Angst war ja unser Ausgangspunkt.
Wenn wir heute Situationen erleben, in denen uns Beamte, Vorgesetzte, Anwälte oder andere Vertreter eines Systems zu Objekten und Nummern degradieren, oder wir dieses perfide Spiel aus Frustration heraus auf unsere Familie übertragen, dann ist es offensichtlich, dass wir in einer Kultur der industriellen Entmenschlichung leben.
Menschen, die sich auf Regeln, Traditionen oder Gesetze berufen, damit sie anderen ihre Menschlichkeit entziehen können, sind das Symptom einer Gesellschaft, die sich selbst ihre eigene Würde entzogen hat.
Die Wende: Wider die Verrohung
Ahmad war 15 Jahre alt, als wegen ihm in meiner Schule eine Disziplinarkonferenz einberufen wurde. Ahmad war ein syrischer Flüchtling, der sein Leben lang auf sein Gefühl nicht wahrgenommen zu werden, mit Provokation antwortete. Wie auch dieses Mal, als er in der Klasse aufgesprungen war, um ?Sieg Heil? zu rufen. Als ich einwandte, dass es hier sicherlich nicht um NS-Gedankengut gehen würde, meinte ein Kollege nur: ?Gesetz ist Gesetz!? Ahmad wurde rausgeschmissen.
Wenn wir uns als Gesellschaft hinter der Logik der Willkür von Regeln und Bestimmungen verstecken, weil wir nicht bereit sind, die Verantwortung für Beziehungen einzugehen, dann haben wir tatsächlich ein Problem.
Die Weigerung, andere als Menschen zu sehen, treibt uns nur noch weiter in die Arme jener Angst, der wir eigentlich entfliehen wollen.
Somit besteht unsere Verantwortung als Menschen vor allem darin, die Menschlichkeit des Gegenüber nicht aus den Augen zu verlieren.
Beziehung sind nur kompliziert, wenn wir sie entmenschlichen. Ansonsten gibt es immer die Chance, einander mit Respekt und Interesse zu begegnen, einander zuzuhören und zu verstehen.
Das geht natürlich nur, wenn beide Seiten dazu bereit sind. Aber was dir niemand nehmen kann, ist die Liebe zu deiner Würde und deine Freiheit, Verantwortung dafür zu übernehmen, eure Verbindung nicht abbrechen zu lassen.
Denn selbst, wenn diese Bereitschaft nicht erwidert wird, kannst du in Liebe bei dir bleiben, und somit deinen Frieden finden, der dich von der Angst befreit, gehorchen zu müssen.
Was unterm Strich bleibt, ist deine liebevolle Präsenz als Anstoß, der anderen Mut zuspricht, sich doch zu zeigen, wie sie sind. Als Mensch.
Ich wünsche dir, dass du es schaffst, dir deine Menschlichkeit zu bewahren, oder mehr noch, dass deine Menschlichkeit Vorbild für andere wird, den Mut zu haben, sich zu zeigen, oder der Angst unserer Kultur zu widerstehen.
Wie immer freue ich mich von dir zu hören, wie es dir mit diesem brandaktuellen Thema geht. Solltest du Unterstützung brauchen, melde dich einfach bei mir, unter wolfgang.neigenfind@visiionbord.com. Wir können gerne ein Gespräch vereinbaren.
In Liebe,
dein Wolfgang
PS: Als Madonna es wagte, der Welt zu zeigen, wie sie sein möchte, wurde sie von allen Seiten für das explizite Zur-Schau-Stellen ihrer Sexualität kritisiert. Doch sie ließ sich nicht beirren und brachte 1994 den Song "Human Nature" heraus, in dem sie mit allen abrechnete. Ich finde gerade Madonna ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass es möglich ist, Wunderbares zu bewirken, wenn du den Mut hast, Verantwortung für deine Menschlichkeit zu zeigen. Die Lyrics gibt es diesmal wieder unterhalb, weil gerade das Originalvideo die Botschaft des Songs so gut unterstreicht.
Lyrics:
Express yourself don't repress yourself
Express yourself don't repress yourself
Express yourself don't repress yourself
Express yourself don't repress yourself
Express yourself don't repress yourself
And I'm not sorry (I'm not sorry)
I'm not sorry
(It's human nature) It's human nature
And I'm not sorry (I'm not sorry)
I'm not sorry
I'm not your bitch don't hang your shit on me
(it's human nature)
Wouldn't let me say the words I longed to say
You didn't want to see life through my eyes
Express yourself don't repress yourself
You tried to shove me back inside your narrow room
And silence me with bitterness and lies
Express yourself don't repress yourself
Did I say something wrong?
Oops, I didn't know I couldn't talk about sex
(I must've been crazy)
Did I stay too long?
Oops, I didn't know I couldn't speak my mind
(what was I thinking)
And I'm not sorry (I'm not sorry)
I'm not sorry
(It's human nature) It's human nature
And I'm not sorry (I'm not sorry)
I'm not sorry
I'm not your bitch don't hang your shit on me
(it's human nature)
You punished me for telling you my fantasies
I'm breakin' all the rules I didn't make
Express yourself don't repress yourself
You took my words and made a trap for silly fools
You held me down and tried to make me break
Express yourself don't repress yourself
Did I say something true?
Oops, I didn't know I couldn't talk about sex
(I must've been crazy)
Did I have a point of view?
Oops, I didn't know I couldn't talk about you
(what was I thinking)
And I'm not sorry (I'm not sorry)
I'm not sorry
(It's human nature) It's human nature
And I'm not sorry (I'm not sorry)
I'm not sorry
I'm not your bitch don't hang your shit on me
(it's human nature)
Express yourself don't repress yourself
Express yourself don't repress yourself
Express yourself don't repress yourself
Express yourself don't repress yourself
Express yourself don't repress yourself
Express yourself don't repress yourself
Did I say something true?
Oops, I didn't know I couldn't talk about sex
(must've been crazy)
Did I have a point of view?
Oops, I didn't know I couldn't talk about you
(what was I thinking)
And I'm not sorry (I'm not sorry)
I'm not sorry
(It's human nature) It's human nature
And I'm not sorry (I'm not sorry)
I'm not sorry
I'm not your bitch don't hang your shit on me
(it's human nature)
And I'm not sorry (I'm not sorry)
(I'm not apologizing)
(It's human nature) It's human nature
Would it sound better if I were a man?
And I'm not sorry (I'm not sorry)
(you're the one with the problem)
I'm not your bitch don't hang your shit on me
(it's human nature)
(why don't you just deal with it)
'Cuz I'm not sorry (I'm not sorry)
Would you like me better if I was?
(It's human nature) It's human nature
(we all feel the same way)
And I'm not sorry (I'm not sorry)
(I have no regrets)
I'm not your bitch don't hang your shit on me
(it's human nature)
Just look in the mirror
And I'm not sorry (I'm not sorry)
(I don't have to justify anything)
(It's human nature) It's human nature
(I'm just like you)
And I'm not sorry (I'm not sorry)
(Why should I be?)
I'm not your bitch don't hang your shit on me
(it's human nature)