Wusstest du, dass 4jährige Kinder in ihren Fähigkeiten unorthodoxe, abstrakte Probleme zu lösen, Erwachsenen haushoch überlegen sind? Wusstest du auch, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen der Länge der Kindheit einer Spezies und ihrer Intelligenz gibt? Und fragst du dich bereits, was das alles mit Tischlern und Gärtnern zu tun hat?
Eins nach dem anderen. Zuerst möchte ich dich ich einmal mit Alison Gopnik bekannt machen, ihres Zeichens Professorin für Psychologie an der University of California, Berkeley. Sie hat nicht nur das Buch geschrieben, das diesem Blogbeitrag die Idee lieferte (hier der Link für Interessierte: The Gardener and the Carpenter ), sondern sie beschäftigt sich in ihrer Forschung sehr intensiv mit der kognitiven und sprachlichen Entwicklung von Kindern.
In ihren Experimenten konnte sie nun einwandfrei feststellen, dass Kinder bei der Findung von abstrakten, statistischen Zusammenhängen, allen anderen Altersgruppen voraus sind. Erkundet wurde diese Fähigkeit mit technischen Spielzeugen oder Geräten, die nur in einer gewissen Kombination funktionieren. Wenn man nun in der Versuchsanordnung nur erklärt, welche Möglichkeiten es insgesamt gibt, waren es eindeutig immer die Kinder, die sofort verstanden haben, welche Kombination die relevante für das Funktionieren der Geräte war. Wohingegen Erwachsene erhebliche Probleme damit hatten.
In einem weiteren Versuch stellte Gopnik auch noch fest, dass Kinder, wenn sie ein Gerät nur vorgestellt bekamen, sehr neugierig alle Funktionen herausfanden und testeten. Sagten aber, die Erwachsenen, die ihnen das Spielzeug vorstellten, was das Gerät kann, indem sie den Kindern ein oder zwei Funktionen vorzeigten, dann blieben die Kinder genau bei dem vorgezeigten Verhalten, und probierten die weiteren Funktionen erst gar nicht aus.
Diese und andere Versuche, führten Gopnik zu der Gegenüberstellung zweier grundsätzlicher Verhaltenstypen von Eltern. Die Tischler und die Gärtner.
Ende des 20. Jahrhunderts gab es einen Wandel in der Auffassung von Erziehung. Nicht mehr die eigene Erfahrung war entscheidend, sondern Erziehung wurde endgültig zum theoretischen Konzept. Deswegen entwickelten sich gewissen Erziehungstechniken, die Eltern nähergebracht wurden, unabhängig von den beteiligten Personen. Die Idee lautete: Je geübter und genauer die Technik beachtet wurde, desto größer der Erfolg. Und das würde bei allen Kindern gleich funktionieren. Wen dem nicht so sei, dann würde die Methode nicht richtig durchgeführt, oder das Kind war fehlerhaft, sprich reif für die Diagnose einer Störung, wie z.B. ADHS.
Parallel dazu führte der Siegeszug der kapitalistischen Konsumgesellschaft zunehmend zu der Auffassung, dass Elternschaft Teil der Produktionskette sei: So wurde sie dann als Konsum gesehen, oder als ein Job, wie jeder andere, abgesehen von der nicht vorhandenen Entlohnung. Deswegen geriet der Ruf dieser Aufgabe auch zunehmend in Verruf. Der Ausweg war darin gefunden, dass alle Beteiligten sich möglichst dramatisch als Opfer inszenierten, um emotionale Zuwendung oder wenigstens Aufmerksamkeit als Entschädigung zu erhalten. Oder Elternschaft wurde eben als Konsumoption gesehen, und somit zum Luxus abgestempelt, der den Aufwand nicht wirklich wert ist. Beide Varianten waren jedenfalls und ironischerweise nicht wirklich produktiv.
Ausgestattet mit all diesen defizitären Ideen, merkten Eltern nämlich schnell, dass das mit den einheitlichen Techniken nicht so wirklich funktionierte. Kinder funktionierten nicht einheitlich bzw. nach den Vorgaben. Doch zu ihrem Glück konnten sie bis vor wenigen Jahren auf Plan B übergehen, ihrer Überlegenheit dem Kind gegenüber. Auf diese Weise wurde das Eltern-Kind-Verhältnis schnell zu einer als "Erziehung" getarnten und willkürlichen Machtausübung der Erwachsenen, die mit je nach Belieben teilweise drastischen Methoden durchgesetzt wurde. Der Spruch: "Weil ich das so sage", und "Solange du deine Füße unter meinem Tisch hast, tust du was ich sage!" waren da noch die harmlosesten Armutszeugnisse elterlicher Rat- und Hilflosigkeit.
Aber nachdem alle fröhlich dem Tischlerhandwerk frönten, und fleißig versuchten, Kinder nach ihren Vorstellung zu formen und zu schnitzen, war dem fragwürdigen Vorgänger von IKEA in Sachen Familienleben der Weg geebnet. Alle bastelten fleißig mit, und wenn das Holz - sprich die Kinder - sich nicht biegen ließen, wurden sie mit Gewalt zurechtgehobelt. Und die Gesellschaft gab allen Eltern recht, sie ermunterte sie sogar dazu, die Kinder nach ihren Vorstellungen zu formen, und auf Fehler hin zu kontrollieren.
Erst als Ende des 20. Jahrhunderts zunehmend die Kinderrechte implementiert und gesellschaftlich anerkannt wurden, führte das zur Krise in der elterlichen Tischlerbranche. Den Handwerkern wurde zuerst das Werkzeug weggenommen (Gewalt wurde zum Tabu!). Dann wurde ihnen auch noch die Pläne für die Kinder entzogen (keine einheitlichen Vorstellungen mehr), und stattdessen warf man den Eltern 100 verschiedene, unvollständige und teilweise widersprüchliche Tipps hin, mit denen sie so wenig anfangen konnten, wie mit schlecht übersetzten chinesischen Bauanleitungen.
Nun standen viele der Tischlereltern da, mit der Idee Möbel zu bauen, ohne eine passende Vorlage oder Schritt-für-Schritt Anleitung. Viele Eltern reagierten auf diesen Zustand mit zunehmenden Unbehagen, manche resignierten und brachten das Holz - Sorry, die Kinder - zu den Experten in Kindergarten und Schule, damit die für sie das Schnitzen und Hobeln übernehmen sollten, oder was man halt noch machen durfte. Was sie dabei übersahen, war die Tatsache, dass die Pädagogen großteils genauso ratlos waren (und sind) wie sie.
Und so hat sich bis heute bei vielen Eltern und Pädagogen eines nicht geändert: Die Erwartung auf ein bestimmtes Endprodukt in Sachen Erziehung, so als wäre das Herumtischlern immer noch eine realistische Option. Dass diese Erwartungen eher zu einer Falle mutieren, die in Burnout und Depression münden, weil die Kinder einfach nicht mitspielen, ist eigentlich hinlänglich bekannt. Trotzdem träumen noch immer viele von der "guten alten Zeit" der Gewalt und der Willkür, was sich vor allem in der ausufernden Kultur des Kontrollierens, Standardisierens und Diagnostizierens widerspiegelt.
Dabei ist Alison Gopnik beileibe nicht die erste, die einen anderen Weg aufzeigt. Die gute Nachricht lautet: Eigentlich sehnen sich viele Eltern längst nach einem Weg, der nicht nur ihren Kindern gut tut, sondern auch ihnen selbst. Wenn man zum Beispiel Astrid Lindgrens Popularität hernimmt, merkt man schnell, dass viele Eltern sich eher einen Garten als eine Tischlerwerkstatt wünschen, in der sich nicht nur Pippi Langstrumpf austoben kann.
Auch Jesper Juul, der berühmte dänische Pädagoge hat deswegen schon lange ein Ende des Erziehungsbegriffes gefordert. Ich tue mir ja - wie du weißt - auch sehr schwer mit diesem Begriff, weil er so viele negative Bedeutungen hat. Eltern sein ist eben kein Job, sondern eine Beziehung. Noch dazu eine, mit einer riesigen, aber gleichzeitig wunderschönen Verantwortung. Nicht Techniken sind wichtig, sondern die Personen. Deswegen auch das Bild vom Gärtner.
So faszinierend es ist, das Wachstum von Samenkörnern zu den verschiedenen Pflanzen zu begleiten, so faszinierend ist es, die Entwicklung von hilflosen Babys zu selbständigen Erwachsenen zu begleiten. Interessanterweise lassen sich ja Menschen wirklich lange Zeit dabei. Der Grund dafür steckt in dem Umstand, dass je länger die Kindheit einer Spezies dauert, desto flexibler und intelligenter wird sie. Das ist auch in der Tierwelt nicht anders. So dauert die Kindheit bei Hühnern nur Wochen. Das Resultat sind Tiere, die sich hauptsächlich auf das Picken von Futter beschränken. Wohingegen die Kindheit der kaledonischen Krähe 2 Jahre dauert. Deswegen ist ihre Intelligenz so ausgeprägt, dass sie sehr flexibel lernt, immer wieder neue, raffinierte Techniken erlernt, und sogar Werkzeuge benutzt.
Analog dazu, ist es auch für uns Menschen von essentieller Bedeutung, die Möglichkeit zu haben, sich in unserer Entwicklung lange auszuprobieren und möglichst oft dabei zu scheitern. Eltern als Gärtner treten eher in den Hintergrund, bereiten den Boden vor, auf dem das Kind sich entwickeln kann, und unterstützen es, sich zu etwas zu entwickeln, das sie nicht unter Kontrolle haben wollen. Vielmehr sind sie fasziniert von der Vielfalt und dem Neuen, das sich ihnen bietet. Solltest du einen Garten haben, weißt du wovon ich rede.
Die Pflege des Gartens tut nicht nur deinen Pflänzchen - sprich Kindern - gut, sondern entspannt auch dich. Weil du dich auf deine Aufgabe konzentrierst, voll Ruhe und Achtsamkeit, und gleichzeitig voll Ehrfurcht, vor dem Außergewöhnlichen, das hier entsteht. Natürlich ist es eine große Herausforderung und Verantwortung, das Ökosystem deiner Familie zu lenken und mit den richtigen Nährstoffen zu versorgen, dass es ausgeglichen bleibt, und allen die Sicherheit gibt, die sie brauchen. Aber es ist auch eine erfüllende und dankbare Aufgabe.
Sobald du begreifst, dass Elternschaft viel weniger mit theoretischen Konzepten und Techniken, sondern mit aufrichtiger und liebevoller Zuwendung zu tun hat, wird dir klar, dass du nichts tun musst, außer vor allem da zu sein. Kinder lernen durch das Teilnehmen an unserem Alltag oft viel mehr, als durch bewusste Lernprozesse. Deswegen finden sie es auch so aufregend, in normale Routinen eingebunden zu werden. Mit Kindern zu kochen, ist zum Beispiel immer wieder eine wunderbare Erfahrung.
Wenn du dich als Elternteil auf eine gleichwürdige Beziehung auf Augenhöhe mit deinen Kindern einlässt, dann hast du bereits viel gewonnen. Natürlich sollst du immer wieder liebevoll Führung übernehmen, du hast ja auch mehr Erfahrung, aber trotzdem ist erst der gelebte Respekt, derjenige, den alle verstehen und verinnerlichen können.
Sobald du bereit bist, alle Erwartungen an deine Kinder gehen zu lassen, und Wörter wie "gut", "schlecht", "richtig" oder "falsch" aus deinem Wortschatz verbannst, bist du bereit, dich auf die Welt deines Kindes einzulassen, und es anzunehmen, wie es ist. Du würdest den Pflanzen in deinem Garten ja auch nicht vorschreiben, wie hoch sie werden sollen bzw. wie sie auszusehen haben.
Wenn du deinen Kindern erlaubst, ihre ganz eigenen Erfahrungen von der Welt zu machen, dann erleben sie, was es heißt, fähig und selbstwirksam zu sein. Auf diese Weise können sie auch lernen, Verantwortung für ihr Handeln zu tragen. Ein guter Rat, den du ihnen auf ihrem Weg mitgeben kannst, lautet:
"Egal was du tust, oder nicht tust, es wird immer jemanden geben, der das nicht mag! Denke nur darüber nach, ob du bereit bist, mit den Konsequenzen deiner Handlung zu leben!"
Natürlich wirst du als Elternteil immer wieder um Rat gefragt werden. Aber wenn du nicht schon ungefragt die richtigen Antworten parat hast, bist du offen für alle Möglichkeiten. Und oft steckt viel mehr Weisheit darin, etwas nicht zu wissen, und diese Demut auch zu zeigen. Mitunter ist deine geduldige Präsenz und dein offenes Ohr, das Wichtigste, das du deinen Kindern geben kannst.
Ich wünsche dir und deiner Familie, das ihr ein Miteinander findet, das euch allen die Chance gibt, aneinander zu wachsen, an Weisheit und Liebe.
Dein
Wolfgang
PS: Wie immer, freue ich mich über Post von dir. Schreib einfach auf wolfgang.neigenfind@visionbord.com