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Als Sarah an diesem Weihnachtsmorgen erwachte und ein Geräusch vom Fenster vernahm, das sich nach Regen anhörte, dachte sie nur: ?Na toll!? Deshalb machte sie sich auch gar nicht die Mühe nachzusehen, ob sie sich täuschte.

 

Nein, sie starrte einfach zur Decke um zu überlegen, was schlimmer war: All die Weihnachtsfeste, die sie bereits erlebt hatte und das waren ja immerhin schon 16, oder die bevorstehende Bescherung.

 

Wenn es um die Vergangenheit ging, war die Auswahl an Katastrophen ziemlich groß. Für ein ?Best Of ? Album? würden sie jedenfalls reichen. Angefangen vom brennenden Baum bis zur in Tränen aufgelösten Mutter, die aus dem Haus stürmte, um erst zwei Stunden später nach Hause zu kommen, war alles schon da gewesen. Kein Wunder, dass Sarah nur mehr einen Gedanken hatte, der sie nicht mehr losließ: ?Wozu denn der ganze Schwachsinn??

 

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Zugegeben, auch sie hatte ihre glorreichen Weihnachtserlebnisse gehabt, die sie glauben ließen, es gäbe keine schönere Zeit im Jahr. Aber da war sie ja auch noch ein Kind gewesen, das schon fasziniert war, einfach unter dem Baum zu liegen und sich in all den bunten Lichtern  und den Düften, die durchs Haus schwebten, zu verlieren. Aber da war sie ? wie gesagt ? noch ein Kind. Und schließlich weiß man ja wie das so ist: Kinder und Schwachsinnige. Gib ihnen einen Luftballon in die Hand und sie freuen sich wie ein Christkind.

 

Tja, das Christkind, wieder so ein Thema. Eigentlich war das Christkind für Sarah immer eine weibliche, engelsgleiche Gestalt, die es jedes Weihnachten geschafft hatte, rechtzeitig zum Fenster hinauszufliegen. Doch dann hörte sie in der Schule, dass das Ganze nur eine Idee von Martin Luther gewesen war, um den Menschen den Gedanken an das Jesuskind wieder näher zu bringen und gleichzeitig den Weihnachtsmann aus dem Geschäft zu drängen und ? puff ? war es Geschichte ? das Christkind.

 

Während Sarah so vor sich hin schwelgte, bemerkte sie, dass ihre Katze ?Katze? (das war tatsächlich ihr Name) in ihr Zimmer geschlichen war. Katze stand mitten im Raum und fixierte Sarah mit ihren großen, grünen Augen. Man kennt ja diesen durchdringenden Blick von Katzen. Aber erst als ihr ein Schauer über den Rücken lief, wurde Sarah klar, dass an dem Blick der Katze etwas anders war. Er hatte etwas Forderndes. Oder war es eine Frage?

 

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Sarah riss sich schließlich los von Katzes Augen und entschloss für sich, diesmal Weihnachten erst gar nicht aufzustehen. ?Vielleicht bemerken sie ja gar nicht, dass ich nicht da bin?, war ihr letzter Gedanke bevor sie einschlief. Stunden später, oder waren es doch nur ein paar Minuten gewesen, wurde sie ziemlich unsanft geweckt.

 

Genauer gesagt schlug ein Ball knapp über ihr gegen das Kopfende des Bettes. Erschreckt und gleichzeitig verwirrt, richtete sie sich auf und blickte in das schadenfrohe Gesicht ihres kleinen Bruders Tobias. ?Raus du Plage?, schrie sie ihn an, während sie nur daran dachte, dass, wenn er schon auf jemanden losgehen sollte, dann auf ihre Eltern, allein dafür, dass die ihn in die Welt gesetzt hatten und ihm auch noch so einen furchtbaren Namen gegeben hatten.

 

Doch Tobias ließ sich in seiner Weihnachtseuphorie nicht bremsen, sprang aufs Bett, rüttelte Sarah und brüllte sie an, als wäre sie schwerhörig: ?Komm, das Christkind! Komm, schnell!? Sarah quälte sich aus dem Bett, beschäftigt mit dem Gedanken, dass Schwachsinnige und Kinder nicht unbedingt zwei Paar Schuhe sein mussten und schleppte sich im Pyjama in die Küche, wo sie alle versammelt waren. Na ja, fast alle.

 

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Papa war ? wie jedes Jahr vor der Bescherung ? noch unterwegs bei den Punschhütten, um ? wie er es gern nannte ? ?lockerer? zu werden. Also, da war sie, ihre Familie. Mama, ihre große Schwester ? wie hieß sie noch? ? ach ja, Maria ? wie denn auch sonst an so einem Tag! ? und ihre Oma. Mama und Maria waren hektisch mit Vorbereitungen für den großen Moment befasst. Fast musste Sarah lächeln, als sie ihre M und Ms beobachtete, wie sie wie Batman und Robin versuchten, das Weihnachtsfest zu retten.

 

Und alles was sie von sich gaben, waren Worte wie ?gleich? und ?sofort?, und zwar immer auf die Frage eines zunehmend ungeduldiger werdenden Tobias, wann den nun endlich das Christkind vorbeikommen würde. Oma saß nur still auf einem Sessel und rührte sich nicht, so wie immer.

 

Apropos, so wie immer! Die nächste Erscheinung war Sarahs Vater, der bei der Tür hereinschneite, und nicht das Christkind. Immerhin trug er auch gehörig zur Weihnachtsstimmung bei, in dem er jede Menge Duft nach Glühwein und Punsch ins Haus brachte. Und als Sarah ihn ansah, und sein breites, wenn auch nicht ganz freiwilliges Grinsen bemerkte, wusste sie, dass nun gleich ihre Lieblingsstelle kommen würde: ?Aber heuer spielst du uns schon etwas auf der Gitarre vor, Sarah.?

 

Und als Nachschlag mit noch mehr Nachdruck gab?s noch ein: ?Weißt du eigentlich was das Zeug gekostet hat?? Doch bevor Sarah etwas erwidern konnte, das sie später bereuen würde, erklang bereits das berühmte Glöckchen, damit auch zurückgebliebene Kinder wie Tobias begreifen konnten: ?Nun war es tatsächlich da das Christkind und du Null hast es wieder versäumt.?

 

Trotzdem stürmte Tobias, nichtsahnend von seiner bevorstehenden Niederlage, hoffnungsfroh ins Wohnzimmer, und der Rest der Familie schlenderte hinterher. Was dann kam, war schon beinahe Routine: Oma nahm irgendwo im Hintergrund Platz. Katze versuchte auf den Baum zu klettern, Tobias stürzte sich auf alle Geschenke, um sie möglichst schnell in einen Riesen Haufen Papiermüll zu verwandeln; Maria versuchte ihn genau daran zu hindern und Mama war den Tränen nahe.

 

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Nur war nicht klar ersichtlich, ob sie gerührt war oder verzweifelt, weil Papa wieder einschlief, noch bevor er seine Geschenke bekommen hatte. Sarah kam letzteres wahrscheinlicher vor, spätestens als Mama ihren Mann energisch wach rüttelte. Josef (war ja klar, dass er so hieß) zeigte irgendwann auch Wirkung, sogar mehr als allen lieb war.

 

Er sprang auf, war ein wenig orientierungslos und versuchte in Richtung Küche zu gehen, was ihm aber nicht wirklich gelang. Denn kaum hatte er den ersten Schritt vorwärts getan, taumelte er zurück, suchte Halt und umarmte den Christbaum. Dieser war von soviel Zuneigung sichtlich überwältigt und fiel samt Josef auf den kleinen Jesus, der bis dahin recht unauffällig in seiner Krippe neben dem Baum geruht hatte.

 

Mama, Maria und Tobias schrien gleichzeitig auf, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Tobias ließ sich jedenfalls die Gelegenheit nicht nehmen, sich auch auf den Baum zu stürzen, während Mama versuchte, Papa hochzuziehen. Und genau als Mama auf Papa fiel und Maria vergeblich versuchte, beide wieder auf die Beine zu stellen, traf Sarahs Blick, den ihrer Katze.

 

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Beide starrten einander an, bis Katze langsam ihren Kopf in Richtung Oma drehte. Da erst bemerkte Sarah den vergnügten Ausdruck auf deren Gesicht. Und als Oma ihr schließlich direkt in die Augen sah, hatte Sarah das Gefühl zu verstehen und auch verstanden zu werden. Beide lächelten einander zu und dann konnten sie sich nicht mehr halten: Sie mussten einfach lauthals loslachen und konnten für mindestens fünf Minuten nicht mehr damit aufhören. Mama, Papa, Maria, Tobias und wahrscheinlich auch der kleine Jesus waren kurz erstaunt, aber nur kurz. Dann brachen auch sie in schallendes Gelächter aus.

 

Seit diesem Erlebnis gab es in Sarahs Familie eine neue Weihnachtstradition ? ich glaube sie nennen es Umarmen; was zwar christbaumtechnisch relativ teuer kommt, ob der vielen Kugeln, die jedes Jahr neu angekauft werden müssen. Aber erstens wurde dieses Ritual auf alle Familienmitglieder erweitert, zweitens braucht Papa jetzt keinen Alkohol mehr dafür und drittens glaubt selbst Sarah heute wieder an das Christkind!

 

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Frohe Weihnachten wünscht dir

 

dein Wolfgang

 



PS: Als 1971 der Song "River" entstand, ging es Joni Mitchell ähnlich wie Sarah in der Geschichte. Sie wollte einfach weg. Weg von einer Beziehung, weg von all dem, was Weihnachten für uns verkörpert. Doch gerade aus ihrer Sehnsucht heraus entstand ein wunderschönes Weihnachtslied, das nicht von Weihnachten handelt. Die Version hier stammt aus dem Jahr 2006 von Schauspieler Robert Downey Jr., der zeigt, dass auch für ihn der Song viel bedeutet.