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Beziehung statt Erziehung:

Warum es endlich Zeit wird für ein neues Verhältnis von Kindern und Erwachsenen

 

Egal ob in den Familien, in Kindergärten oder Schulen, überall werden die Systeme und ihre Strukturen hinterfragt, und vor allem die institutionelle Erziehung befindet sich weltweit in der Krise. Trotzdem kommt - bis auf wenige Ausnahmen - fast niemand auf die Idee nachzusehen, ob es nicht schon von Anfang an einen immanenten Systemfehler gegeben hat, der dafür gesorgt hat, dass das Ganze nie funktionieren konnte. Denn Hand auf's Herz, wann waren Familien, Schulen und andere Betreuungseinrichtungen nicht Katastrophen?

 

Deswegen möchte ich nun die Systemfrage stellen. Was, wenn der Erziehungsbegriff schon immer das Problem war? Könnte es nicht sein, dass Erziehung bereits immer das falsche Herangehen war?

 

 

Sackgasse Erziehung

 

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Die Kindheit bzw. Kinder als Begriffe gibt es in der Geschichte der Menschheit noch nicht sehr lange. Auch wenn die Griechen und Römer schon Ansätze zeigten zumindest gewisse Bevölkerungsgruppen zu fördern, dauerte es eigentlich bis ins 20. Jahrhundert, bis sich die Kindheit als schützenswerter Entwicklungszeitraum durchsetzte. Und so sehr Kinder bis dahin weder be- noch geachtet wurden, kam es im 20. Jahrhundert zu einer Umkehrung des Ansatzes. 

 

Wurden zuerst Kinder nicht ernst genommen, weil sie so gut wie ignoriert wurden, kam es durch reformpädagogische Bewegungen zu einer anderen Art der Funktionalisierung von Kindern. Denn durch die zunehmende Etablierung pädagogischer und psychologischer Schulen und Experten, wurde Erziehung und Pädagogik immer mehr zum Zweck an sich. Das bedeutete in der Praxis, dass Kinder einerseits ideologisch überhöht wurden, was sie fast untastbar machte, um sie zeitgleich immer mehr zu psychologisieren bzw. diagnostizieren. 

 

Und die einzigen, die bei dieser Entwicklung nicht mitreden durften, waren die Eltern. Schließlich waren sie nicht mehr kompetent genug, über ihre Kinder wirklich Bescheid zu wissen. Somit wurde Kindheit immer mehr zur Krankheit einerseits und schon im Mutterleib wurde damit begonnen, die ersten Defizite festzustellen. Und die Elternschaft wurde parallel dazu zum Mysterium, das alle Beteiligten scheinbar überfordert. 

 

Nachdem der Pluralismus und das Expertentum in der Erziehung (Was ist denn jetzt noch richtig? Hilfe!) für Resignation unter den Eltern gesorgt hatte, war es nur eine Frage der Zeit bis auch die "professionellen" Erzieher*innen als nächstes verzweifelnd ins Burn Out schlitterten. 

 

 

Warum Erziehung nicht funktioniert und unseren Kinder schadet

 

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Den Eltern und Pädagogen war außerdem etwas Entscheidendes abhanden gekommen. Es gab zwar noch Erziehungsziele (diese wurde sogar mehr), aber es gab keine Möglichkeit mehr, diese gewaltsam durchzusetzen. Nachdem Kinder nicht mehr mit Gewalt und Missbrauch zur Räson gebracht werden durften, wurde langsam allen klar, dass eigentlich Erziehung nie halten konnte, was sie versprochen hatte, bzw. dass Erziehung schlicht und einfach nicht funktioniert.

 

Übrig geblieben sind nur mehr Sanktionen in Form von Strafen, die auch schon immer im Repertoire von Erziehung eine wichtige Rolle gespielt haben. Eltern und Leher*innen können sich dieser Form der Machtausübung nachwievor bedienen. Die Frage ist nur zu welchem Preis? Denn jede Form der Strafe führt dazu, dass das Verhältnis zum Kind nachhaltig beschädigt wird. Außerdem wirkt Strafe nicht wirklich. Menschen, die gewisse Verhaltensweisen zeigen, um Strafe zu vermeiden, tun eben nur genau das. Das beabsichtigte Ziel der dauerhaften Verhaltensveränderung wird so gut wie nie erreicht. Eher sogar das Gegenteil. Viele Kinder und Jugendliche nutzen, wenn sie mit Strafe bedroht werden, jede Möglichkeit, die sanktionierende Macht zu untergraben.

 

Der Hauptgrund, warum Erziehung für uns alle nicht funktioniert, liegt in der Grundannahme, dass zu Erziehende funktionalisiert werden können und dass dies sogar zum Besten der Beteiligten passiert. Aber Menschen zum Objekt zu degradieren, ist nicht nur moralisch verwerflich, was bereits Philosophen wie Immanuel Kant eindrucksvoll aufgezeigt haben, sondern fügt den Kindern mehr Schaden zu, als es ihnen Nutzen bringt. Denn wenn Menschen auf ihre Funktionalität reduziert werden, wie es in der Schule so oft passiert, und warum die meisten Schüler*innen die meiste Zeit als Störfaktor betrachtet werden, dann wird ihnen fortwährend suggeriert, nicht genug zu sein. Als Folge fühlen sich Kinder nicht mehr wohl, vertrauen weder den Erziehenden noch sich selbst. Sie verlieren den Kontakt zu sich selbst, und es wird ihnen unmöglich gemacht, ihr Potential abzurufen.

 

Beliebte Methoden der Objektivierung sind außer Sanktionen auch noch Kontrolle und Manipulation. Wenn du einmal probiert hast, einen anderen Menschen zu kontrollieren, wirst du schnell bemerkt haben, dass es einfach nicht funktioniert. Das ist ja eigentlich die gute Nachricht. Wir Menschen sind immer frei, Nein zu sagen, nicht zu gehorchen, es uns anders zu überlegen, einfach keine Lust zu haben. Und selbst eine Pistole an deiner Schläfe kann das nicht ändern, wenn du das so willst. Denk nur an das Thema Essen, bzw. warum es überhaupt sogenannte Essstörungen gibt.

 

Sobald Eltern und Lehrer*innen bemerken, dass sie absolut keine Möglichkeit zur Kontrolle von Kindern haben, kommt bei den meisten zuerst einmal Panik auf. Diese Angst führt dann zu meist absurden Kurzschlusshandlungen, wie willkürliche Strafen, Kleinmachen oder Demütigen der Kinder oder den Versuch sie zu manipulieren.

 

Manipulation als Erziehungsmittel ist sehr beliebt und hat nicht einmal einen schlechten Ruf. Sie wird allen Erziehende zugestanden, nach der Devise: "Was sollen sie denn sonst tun?" Außerdem liefert sogar die Psychologie Anleitungen zur Manipulation in Form der Konditionierungstheorien. Ob klassische oder operante Konditionierung, alles ist scheinbar erlaubt, was zum Erziehungsziel führt. Vor allem Belohnungen sind dabei beliebt, weil man ja argumentieren kann, dass Kinder von Belohnungen ja schließlich auch profitieren.

 

Was dabei übersehen wird, ist eben die Tatsache, dass Manipulation immer noch Manipulation bleibt. Wie würdest du reagieren, wenn dich deine bessere Hälfte immer manipuliert, um etwas von dir zu bekommen? Ja, du würdest dich zurecht als Mensch nicht wirklich anerkannt fühlen. Warum ist es dann für uns in Ordnung, unsere Kinder unentwegt zu manipulieren, nur damit wir bekommen, was wir wollen?

 

Die Antwort lautet schlicht und einfach: Es ist nicht in Ordnung. Wir tun es nur, weil wir es können. Leider bedenken wir nicht, was wir uns mit diesen Methoden einhandeln. Denn sobald deine Kinder Manipulation und auch Bewertungsbedingungen verinnerlicht haben, führt das unweigerlich dazu, dass sie sich nicht mehr so wohl fühlen in ihrer Haut, und sich selbst zunehmend als nicht genügend erleben. 

 

Bewertungen als Teil unserer Erziehung führen nämlich dazu, dass unsere Kinder irgendwann das Geschenk verlieren, sich als vollkommen zu erleben, so wie sie sind. Denn sobald du Bewertung als normal empfindest, gibt es auch immer Menschen, die besser abschneiden, die bessere Bewertungen erhalten; gar nicht zu reden von Kindern, die sowieso fast nie positive Bewertungen erhalten. Das Resultat ist immer fatal. Kinder erleben sich nur mehr als liebenswert, wenn sie Ansprüchen und Erwartungen ihrer Eltern, der Schule oder der Gesellschaft gerecht werden, und das schafft niemand. Oder kennst du jemand, dem das aus seiner Sicht gelungen ist?

 

Du siehst, Erziehung mit ihren Methoden der Kontrolle, Manipulation, Erwartungen, Sanktionen und Bewertungen konnte einfach nicht funktionieren. Denn die negativen Effekte der Erziehung führten logischerweise dazu, dass sie ihr Versprechen nicht halten konnte. Wenn wir Menschen ständig erfahren, dass unser Selbstwert an Bedingungen und Erwartungen geknüpft wird, und wir immer wieder erleben, nicht genug zu sein, dann führt das in vielen Fällen dazu, dass wir uns in unserer Entwicklung und Entfaltung bremsen lassen, bzw. sogar selbst daran hindern.

 

 

Beziehung als Schlüssel

 

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Ich bin nicht der Erste, der Erziehung durch Beziehung ersetzen möchte. Prominente Vertreter der Pädagogik wie Hermann Giesecke und Jesper Juul haben sich bereits seit Jahrzehnten bemüht, diesen Weg zu propagieren. Aber auch Marshall B. Rosenbergs Ansatz der gewaltfreien Kommunikation geht sehr stark in dieselbe Richtung.

 

Jetzt stellt sich die Frage, warum der Begriffswechsel überhaupt notwendig ist. Es geht vor allem darum, dass Erziehung immer schon auf einer schiefen Ebene und vor allem als explizite Machtausübung verstanden wurde, selbst wenn immer das Beste für das Kind gewollt wurde. Jede Form der Erziehung geht davon aus, dass der Erziehende absolute Macht über die Methoden und auch das Kind selbst hat.

 

Beziehung andererseits ist zwar an sich ein neutraler Begriff, aber das Ziel besteht für mich darin, dass wir die Beziehung von Erziehenden und zu Erziehenden als gleichwürdig, und getragen von gegenseitiger Wertschätzung auf Augenhöhe sehen. Die Rolle der Eltern, oder Lehrer*innen ist nun eher die von liebevollen und unterstützende Mentoren, die Kinder bedingungslos dabei unterstützen ihren eigenen Weg zu finden.

 

 

Weniger ist mehr

 

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Wenn Eltern und andere Erziehende erkennen, dass ihre Rolle nicht darin besteht, Kinder kontrollieren zu wollen, weil sie nicht die Verantwortung für das Leben dieser Kinder übernehmen können, dann ist schon viel passiert. Los zu lassen ist für viele Eltern sehr schwierig, weil sie, geprägt vom ersten Lebensjahr des Kindes, glauben, sie sind absolut für das Glück ihrer Kinder verantwortlich. Dabei passiert es oft, dass Eltern sich so sehr mit ihren Kindern identifizieren, dass sie all ihre Wünsche und Hoffnungen auf die Kinder projizieren, was bisweilen sogar in eine Ko-Abhängigkeit ausartet, mit der Folge, dass Kinder gar nicht die Möglichkeit erhalten, sich eigenständig zu entwickeln.

 

So besteht der wichtigste Prozess für viele Eltern darin, ihre Kinder als eigenständige Mitmenschen auf Augenhöhe zu respektieren. Diese Erkenntnis ist eine Win-Win-Situation, weil die Kinder frei werden, sich so zu entfalten, wie sie es möchten, und auch die Eltern wieder ihr eigenes Leben zurückgewinnen.

 

Denn dann fällt es auch beiden Seiten leichter die eigenen Grenzen zu definieren und auf sich selbst zu achten. Eltern, die wieder ihre eigenen Bedürfnisse wahrnehmen, schaffen es auch, authentisch und positiv ihre Werte zu kennen und zu leben, um sie auch den Kindern glaubhaft zu kommunizieren.

 

 

Ein völlig neues Miteinander

 

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Beziehung ist eben keine Einbahnstraße, im Gegensatz zu Erziehung. Eltern, die ihren Kindern mit bedingungsloser Wertschätzung und Liebe begegnen, wissen, dass sie genauso viel von ihren Kindern lernen können wie umgekehrt. Das heißt aber nicht, dass sie nicht Führung für die Kinder übernehmen. Im Gegenteil. Als Mentoren unserer Kinder sind wir erst recht daran interessiert, dass wir den Kindern helfen, ihr Potential zu entfalten. Nur müssen wir uns nun auch darum bemühen, glaubhaft zu sein, um als Autorität auch anerkannt zu werden.

 

Der Unterschied besteht auch darin, dass diese Führung eben immer Unterstützung ist, die liebevoll geschieht und ergebnisoffen. Das soll heißen, dass wir als Eltern aufhören, unseren Kindern bestimmte Erwartungen umzuhängen, sowohl in Bezug auf ihren Charakter, ihren Werdegang oder allem anderen in ihrem Leben. Natürlich führt dies unweigerlich zu Konflikten. Aber Menschen, die einander respektieren und wertschätzen, wissen auch, dass Glück wichtiger ist, als Recht zu haben, oder im Recht zu sein. 

 

Außerdem ist es ohne Erwartungen und Kontrolle auch möglich, eine positive Fehlerkultur zu etablieren. So wie wir im ersten Lebensjahr jeden Entwicklungsfortschritt unsere Kinder bejubeln, egal wie oft sie es versuchen. Genauso können wir auch die Jahre danach gestalten. Wenn alle in der Familie begreifen, dass der Versuch bzw. der Prozess das Entscheidende ist, und nicht das Ergebnis, dann ist es auch viel leichter möglich, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen und zu festigen.

 

Letztendlich erkennst du als Erziehender, wenn du bereit bist, dich auf eine wertschätzende und offene Beziehung mit deinem Kind einzulassen, dass du gar nicht viel tun musst. Deine liebevolle Präsenz und dein gelebtes Vorbild sind eigentlich der wertvollste Beitrag, den du leisten kannst. Und das ist, wie wir alle wissen, ohnehin schon sehr viel.

 

Solltest du tatsächlich Kinder haben, oder in einer Institution wie Kindergarten oder Schule arbeiten, dann hoffe ich, du bist bereit, dich auf das neue Miteinander einzulassen. Ich selbst habe in den letzten Jahren versucht, sowohl zu Hause mit den Kindern, als auch in der Schule das Motto "Beziehung statt Erziehung" hochzuhalten. Und ich kann dir nur sagen, es ist so, als würde ich auf einem anderen Planeten leben. Du wirst nämlich erleben, dass du nicht nur das Leben der Kinder zum Positiven veränderst, sondern vor allem auch dein eigenes.

 

Probier es einfach aus. Ich würde mich auch sehr über Berichte von dir freuen. Schreib mir einfach auf wolfgang.neigenfind@visionbord.com

 

In Liebe, 

Wolfgang